Das Buch „Haltung – Flagge zeigen in Leben und Politik“
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Aufregerbuch

Mitterlehners Sicht der Dinge

Zwei Jahre nach seinem Rücktritt hat der frühere ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner die Ereignisse aus seiner Perspektive niedergeschrieben: In dem Buch „Haltung – Flagge zeigen in Leben und Politik“ arbeitet er den monatelangen Machtkampf um die Führung der ÖVP und die Übernahme durch Sebastian Kurz, heute Kanzler, auf – und rechnet dabei durchaus mit seiner Partei ab. Die Rede ist von Intrigen, Mobbing und Machtstreben.

In dem Buch mit rund 200 Seiten legt Mitterlehner seine Sicht der Dinge dar, dementsprechend subjektiv werden die Ereignisse beschrieben, was aber letztlich zumindest in die allseits erwartete Abrechnung mit der Kurz-Truppe mündet – und das ist es auch, was das Buch interessant macht. Schon im Prolog klagt Mitterlehner, dass es in der Politik „fast nie um den Wettbewerb der besseren Konzepte“ gehe, sondern „um Machtergreifung und Machtdurchsetzung“.

Das spannendste Kapitel ist denn auch eindeutig jenes zur „Machtübernahme“: Mit seinem Rücktritt im Mai 2017 habe er die Partei keineswegs überrumpelt, so Mitterlehner. Kurz und seine Vertrauten hätten sich vielmehr bereits seit mehr als einem Jahr minutiös auf die Übernahme der Partei vorbereitet, so der langjährige ÖVP-Politiker unter Verweis auf später aufgetauchte Unterlagen.

Ziel, die Koalition zu sprengen

Mitterlehner schildert teils ausführlich, wie er zunächst mit dem steigenden Politstern Kurz eine „Kooperation bis zum Jahr 2018“, also regulären Wahlen, besiegelt habe. Kurz habe sich daran aber nicht gehalten. „Natürlich entging es mir nicht, dass, während ich alle Hände voll mit der politischen Alltagsarbeit zu tun hatte, die Umfragewerte des Außenministers linear nach oben gingen.“

Als nach dem Rücktritt von SPÖ-Chef Werner Faymann dann Christian Kern als neuer Kanzler auftauchte, habe Kurz bestätigt, dass es sein Ziel sei, die Koalition zu sprengen, behauptet Mitterlehner. „Kurz hatte das Grand Design im Mai 2016 schon im Kopf, das er dann im Jahr 2017 auch umsetzte. Ich sollte für ihn die Koalition aufkündigen und den Schwarzen Peter nehmen, damit er unbefleckt in Neuwahlen gehen könne.“

Arbeit „torpediert“

Als er abgelehnt habe, sei es zum endgültigen Bruch gekommen. Mitterlehner berichtet von „Mobbing“ und „Intrigen“ wie „teilweise frei erfundenen“ Geschichten über ihn im Boulevard. Hinter seinem Rücken habe Kurz bereits sein Programm vorgestellt und „Sponsoren-Rallyes“ absolviert. Er habe gehofft, mit Kern noch etwas umsetzen zu können, doch seine Arbeit sei „schon in der Entstehung torpediert“ worden, klagt Mitterlehner. „Dabei ging es dann auch nicht mehr um einen Wettstreit der besseren Ideen, sondern um nichts anderes als um Macht, also darum, wer über Personen und Ressourcen entschied.“

Sobotka als „Zerstörer“

Als Kern im Jänner 2017 seinen „Plan A“ vorstellte, habe er Kurz im Fall von Neuwahlen die Spitzenkandidatur angeboten, dieser sei aber vage geblieben. Mitterlehner gewährt dann Einblick in die Verhandlungen mit der SPÖ und das Tauziehen mit Kurz und seinen Unterstützern wie dem damaligen Innenminister Wolfgang Sobotka – inklusive Gin Tonics in einem Wiener Ringstraßenhotel. „Die Eskalationsspirale wurde weitergedreht, als hätte es den Relaunch des Regierungsprogramms nie gegeben. Kern und ich sollten einfach keine Erfolge mehr haben.“

Der „Anfang vom Ende“ sei schließlich der Brief an die EU wegen der Indexierung der Familienbeihilfe gewesen, von dem der Parteichef nicht informiert gewesen sei, so Mitterlehner. Da er nicht die Rolle des „Sprengmeisters“ der Koalition übernehmen habe wollen, sei Sobotka in die „Rolle des Zerstörers und Kern-Kritikers“ geschlüpft – bei seiner Kritik an Kanzler Kern habe Sobotka dabei „durchaus den verbalen Dreschflegel“ ausgepackt. „Der Streit wurde genau von jenen gezielt in die bestehende Koalition getragen, die heute nicht zu streiten als oberste Pflicht proklamieren.“

„Faktisch zwei ÖVP-Chefs“

Faktisch habe es in dieser Phase zwei ÖVP-Chefs gegeben, bilanziert Mitterlehner: ihn als offiziellen und mit Kurz einen heimlichen, der etwa parallel wöchentliche Besprechungen abgehalten habe. So kam es dazu, dass Mitterlehner „mehr oder weniger ein Potemkin’sches Dorf“ führte. „Da nahm ich im wahrsten Sinne des Wortes Haltung an“, meint Mitterlehner zu seinem Rücktritt am 10. Mai 2017. Kurz übernahm und rief Neuwahlen aus, seit Ende 2017 regiert er im Kanzleramt mit den Freiheitlichen.

Kurz „hat die Rechten salonfähig gemacht“

Von dieser ÖVP-FPÖ-Koalition ist Mitterlehner offensichtlich wenig angetan. „Sebastian Kurz hat in jedem Fall die Rechten salonfähig gemacht“, schreibt er. Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) vermittle „immer wieder die Einstellung, die Politik stünde über dem Recht und sogar über internationalen Rechtsgrundlagen“. Aber auch die Regierung selbst habe merkwürdige Ansichten, verweist Mitterlehner auf die geplante Sicherungshaft, also mutmaßlich gefährliche Asylwerber vorweg in Sicherheitsverwahrung zu nehmen. Überhaupt seien die Flüchtlinge pauschal zum Feindbild geworden, „restriktive Flüchtlingspolitik ist so etwas wie die Geschäftsgrundlage dieser Regierung geworden“.

Er sehe „die Gefahr, dass die vorrangig auf Stimmung und Anlass ausgerichtete Politik geltende Wertmaßstäbe beiseiteschiebt“, so Mitterlehner. Maßstab der Politik dürfe nicht nur die Meinungsumfrage sein, mahnt der frühere Parteichef. Auch dem – seiner Meinung nach zu engen – Verhältnis von Politik und Medien widmet sich Mitterlehner in dem Buch, inhaltlich arbeitet er die Wirtschaftskrise und die Flüchtlingskrise auf.

Mitterlehners Werdegang

In dem Buch geht es aber auch um Persönliches wie den Tod seiner ältesten Tochter im Herbst 2016. Mitterlehner spannt zudem biografisch den Bogen von seiner Kindheit im oberösterreichischen Helfenberg über seine Zeit im Gymnasium Rohrbach bis zur Universität, wo er in der Studentenverbindung den Spitznamen „Django“ bekam, mit dem auch die Marketingabteilung der ÖVP gerne spielte. „Als Politiker hätte ich, um stimmig als Django zu agieren, wohl schnell schießen müssen, sprich in Neuwahlen gehen oder den einen oder anderen hinausschmeißen müssen. Ob das Image eines Polit-Rambos jedoch das Wahre gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln.“