Illustration der Romanfigur Robinson Crusoe
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300 Jahre

„Robinson Crusoe“ als kulturelles Füllhorn

Am 25. April 1719 ist mit Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ eines der bekanntesten Werke der Weltliteratur erschienen. In den vergangenen 300 Jahren wurde der Mythos zigfach nacherzählt, adaptiert und dekonstruiert. Die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der 28 Jahre auf einer einsamen Insel verbringt, bietet zahlreiche Lesarten, die so vielseitig sind wie das Genre selbst, dem der Roman seinen Namen gab: die Robinsonade.

Die Zutaten einer klassischen Robinsonade sind schnell aufgezählt: Man nehme einen Schiffbruch, würze das mit einer einsamen Insel und garniere es mit dem Aufbau einer neuen Zivilisation. In einer Robinsonade verschmelzen verschiedene Gattungen, die Ereignisse, die zum Schiffbruch führen, werden im Stil eines Abenteuerromans geschildert, der Versuch einer neuen Gesellschaftsordnung geschieht im Sinne einer Utopie, und die Beschreibungen der Tätigkeiten und Erlebnisse sind oft in Form von Tagebucheinträgen.

In Umlauf gesetzt hat den Begriff ein deutscher Schriftsteller, der in seinem an „Robinson Crusoe“ angelehnten Werk „Die Insel Felsenburg“ (1731-1743) in der Vorrede von „zusammengeraspelten Robinsonandenspänen“ spricht: Johann Gottfried Schnabel.

Vielschreiber und Pleitier

Als Vielschreiber verfasste Defoe journalistische und politische Essays, wirtschaftliche Kompendien, Abhandlungen über die Seefahrt und sogar ein Erziehungshandbuch in Form von fiktiven Dialogen zwischen Eltern und Kindern. Nebenbei versuchte sich der englische Schriftsteller als Händler und Kaufmann, was jedoch in einem Bankrott endete.

Fasziniert von Seefahrt und Piraten dürfte er in London von einem Bericht gehört haben, der ihm als Inspiration für seinen ersten Roman diente. Der schottische Seefahrer Alexander Selkirk wurde auf einer unbewohnten Insel des Juan-Fernandez-Archipels vor der chilenischen Küste zurückgelassen und verbrachte dort mehr als vier Jahre, bis er schließlich gerettet wurde.

Erstausgabe von „Robinson Crusoe“
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Cover der Erstausgabe

Crusoes Geschichte

„Robinson Crusoe“ wird oft als Geburtsstunde des modernen europäischen Romans bezeichnet, da er sich erstmals in einer realistischen Erzählweise dem Bürgertum zuwendet. Genau diesem von seinem Vater so gepriesenen komfortablen Mittelstand will jedoch Robinson entfliehen, indem er Abenteuer und Reichtümer in der Seefahrt sucht und sich nicht einmal durch seine vorübergehende Versklavung nach einer Gefangennahme durch Piraten „bekehren“ lässt.

Im Gegenteil: Als ihm die Möglichkeit gegeben wird, in Brasilien auf seiner gut gehenden Plantage ein angenehmes Leben zu führen, will Robinson erneut mehr. Das Vorhaben, neue Sklaven für seine Plantage zu beschaffen, endet aber in der stürmischen See, und Robinson wird als einziger Überlebender auf eine einsame Insel gespült. Dort erarbeitet er sich mit viel Mühe und Fleiß ein kleines Reich mit Viehzucht, Ackerbau und mit der Zeit auch kleinen Vorräten. Akribisch, fast buchhalterisch könnte man sagen, hält er seine Tätigkeiten in seinem Tagebuch fest.

Robinson im „Kapital“

Ökonomen bezeichnen Robinson daher oft als Homo oeconomicus par excellence, als Symbol für den Aufstieg des modernen kapitalistischen Individuums. Selbst Karl Marx kommt an der kapitalistischen Lesart nicht vorbei und sinniert in „Das Kapital“ über die kapitalistische Produktionsweise Robinsons und den nicht vorhandenen Tauschwert der Waren auf der Insel. Soziale Beziehungen knüpft Robinson keine, seine Familie verlässt er, für Liebe und Sexualität (und eine Frau) ist auf der Insel kein Platz. Und er sucht auch keine Freundschaft, als er mit dem vor den Kannibalen geretteten Freitag nach unzähligen Jahren der Einsamkeit endlich menschliche Gesellschaft bekommt.

Kritische Sicht auf Kolonialismus

Die Beziehung zu und Darstellung von Freitag, den Robinson nach dem Wochentag ihres Zusammentreffens benennt und den er die englische Sprache und den christlichen Glauben „lehrt“, ist der wohl zentrale Kritikpunkt an „Robinson Crusoe“. Der Roman propagiere den europäischen Kolonialismus und sei entsprechend strukturiert, so die Kritik. Crusoe mache sich die Insel und Freitag nach europäischen Vorstellungen untertan, ohne das Andere zu respektieren und darauf Rücksicht zu nehmen. Auch der Umgang mit Sklaven ist aus heutiger Sicht freilich rassistisch. Feministische Betrachtungen stoßen sich wiederum an der Marginalisierung der Frau, an der die untergeordnete Position in einem patriachalischen System ersichtlich wird.

Dekonstruktion eines Mythos

Auch literarische Neuschreibungen des Stoffs tragen diesen kritischen Perspektiven Rechnung: So lässt Michel Tourniers Roman „Freitag oder im Schoß des Pazifiks“ (1967) Robinson an seinen herrschaftlichen Bestrebungen auf der Insel scheitern. Je mehr er Freitag sein System aufzwingen will, desto mehr verliert er die Kontrolle über sein zivilisiertes Selbst.

Joachim Meyerhoff als „Robinson Crusoe“ in der Burgtheateraufführung „Robinson Crusoe – Projekt einer Insel“
APA/Hans Klaus Techt
Auch das ist „Crusoe“: Joachim Meyerhoff in „Robinson Crusoe – Projekt einer Insel“ im Burgtheater 2012

Die vermeintliche Entstehung von „Robinson Crusoe“ verhandelt der südafrikanische Autor J. M. Coetzee in „Foe“ (1986). In seiner Version landen Susan Barton, Robinson Crusoe und Freitag, dem die Zunge herausgeschnitten wurde, gemeinsam auf der Insel. Während Robinson die Rückreise nach England nicht überlebt und Freitag keine Stimme hat, um seine Sichtweise zu erzählen, will Susan ihre Erlebnisse durch den Schriftsteller Daniel Foe veröffentlichen. Dieser publiziert stattdessen jedoch die uns bekannte Geschichte. Coetzee griff die Thematik sogar in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 2003 an ihn auf.

„Robinson Crusoe“ für Kinder

Defoe traf mit seiner Version jedoch zweifelsfrei den Geist seiner Zeit. Innerhalb eines Jahres wurde der Roman ins Deutsche, Französische und Niederländische übersetzt, bis 1720 schrieb er auch noch zwei weniger bekannte Fortsetzungen. Seine Popularität in der Kinder- und Jugendbuchliteratur verdankt der Roman wohl dem französischen Philosophen und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau.

Der plädierte 1762 in seiner erziehungstheoretischen Abhandlung „Emil oder Über die Erziehung“ für eine praktische „Erziehung durch die Umwelt“ und riet von Kinderliteratur ganz ab, die den natürlichen Charakter des Kindes nur verderben würde. Einzige Ausnahme: „Robinson Crusoe“. So wie Crusoe sollten Kinder spielend in der Natur lernen und sich so weiterentwickeln – „learning by doing“ sozusagen.

Illustration aus dem Buch „Der schweizerische Robinson“ von Johann David Wyss
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Die Schweizer Familie Robinson

Erfolgreiche Version aus der Schweiz

Eine besonders erfolgreiche Variante des Stoffs als Kinderliteratur ist „Der Schweizerische Robinson“, den der Berner Stadtpfarrer Johann David Wyss ursprünglich nur für seine eigenen Kinder schrieb und erst 1812 veröffentlichte. Eine Familie erleidet bei ihrer Auswanderung auf die Gewürzinseln Schiffbruch, kann sich jedoch im Indischen Ozean auf eine verlassene Insel retten und baut sich dort ein neues Zuhause auf. Wyss wollte mit seiner Abenteuergeschichte nicht nur unterhalten, sondern schuf mit Ausführungen zu Flora und Fauna der Insel ein kleines Lehrwerk für Kinder.

Literaturnobelpreis und Golden Globes

Weltbekannt wurde eine weitere Variation des Motivs: Nicht Schiffbruch, sondern ein Flugzeugabsturz lässt in William Goldings „Herr der Fliegen“ („Lord oft the Flies“, 1954) eine Gruppe Sechs- bis Zwölfjähriger im Zuge einer Evakuierungsaktion auf einer einsamen Südseeinsel stranden. Die vermeintliche Rettung vor einem Atomkrieg entwickelt sich auf der Insel schnell zu einem gewaltsamen Konflikt zweier sich rivalisierender Gruppen auf Leben und Tod. Das erinnert nicht zu Unrecht an die so erfolgreiche TV-Serie „Lost“, die zwischen 2004 und 2010 im Sender ABC lief und unzählige TV-Preise einheimste.

Golding erhielt für seinen Roman 1983 den Nobelpreis für Literatur – „für seine realistische Erzählkunst“, welche die „vielseitige Allgemeingültigkeit des Mythos“ und die „menschlichen Bedingungen in der heutigen Welt beleuchtet“, so die Begründung des Nobelpreiskomitees.

Der Mars als Insel

Science-Fiction macht aus der einsamen Insel wiederum einen fremden Planeten: In „Der Marsianer“ („The Martian", 2014) von Andy Weir kämpft ein auf dem Mars zurückgelassener Astronaut ums Überleben in einer unwirtlichen Umgebung. Die Verfilmung „Der Marsianer – Rettet Mark Watney“ mit Matt Damon in der Hauptrolle sorgte 2015 für große Erfolge an den internationalen Kinokassen und wurde mit zwei Golden Globes für den besten Film und besten Hauptdarsteller sowie mit sieben Oscar-Nominierungen belohnt.

Natürlich gibt es zahlreiche Verfilmungen des klassischen „Robinson Crusoe“ selbst, hervozuheben ist etwa „Die Abenteuer von Robinson Crusoe“ (1954) unter der Regie von Luis Bunuel und mit Dan O’Herlihy in der Hauptrolle. In „Cast Away – Verschollen“ (2000, Regisseur: Robert Zemeckis) ist zwei Stunden und 20 Minuten lang beinahe nur Tom Hanks zu sehen. Dem Erfolg konnte das trotzdem keinen Abbruch tun. Beide Schauspieler erhielten übrigens eine Oscar-Nominierung für den besten Hauptdarsteller.

Kein Ende in Sicht

Die Robinsonade ist seit Defoe ein häufiges Motiv in der Literatur und der Populärkultur, fand aber auch ihren Niederschlag in der Wissenschaft. Sie wandelte sich und wurde erweitert: Die Abgeschlossenheit der Insel kann etwa als „Gegenort“ zu vorhandenen Räumen verstanden werden – Heterotopien nennt sich das beim französischen Philosophen Michel Foucault, der als klassische Beispiele etwa Gefängnisse und Kirchen nennt. Auch Figuren selbst können eine Art Insel, einen „Gegenort“ zu der sie umgebenden Umwelt bilden.

Postapokalyptische Dystopien wie Cormac McCarthys „Die Straße“ („The Road“, Pullitzer-Preis 2007) oder ökologische Katastrophen wie „Ich bin die Zukunft“ (2014) des österreichischen Schriftstellers Erwin Uhrmann sind weitere Beispiele für eine solche Weiterentwicklung. Dadurch bleibt die Robinsonade wahrscheinlich weiterhin und auf lange Zeit ein populäres und viel beachtetes Genre. Dass sein „Robinson Crusoe“ ein solch nachhaltiges Erbe hinterlassen würde, hätte sich Defoe vor 300 Jahren wohl in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt.