Kind mit einem Sachbuch
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Physik, Chemie & Co.

Neue Sachbücher für „Horrorfächer“

Es müssen nicht immer Kinderbücher mit Geschichten sein, auch mit Sachbüchern kann man Lesen lernen. Neben der Lust am Lesen können gut gestaltete Sachbücher außerdem schon im Volksschulalter Begeisterung für Naturwissenschaften und Technik wecken – und damit dem Klischee von den ungeliebten „Horrorfächern“ Physik, Mathematik und Chemie entgegenwirken.

„In Österreich werden MINT-Fächer auf ein Podest gestellt“, sagt Barbara Smrzka von den Büchereien Wien. Das Kürzel MINT steht für die Fachbereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Es werde oft so getan, „als müsse man supergescheit sein, wenn man beruflich was mit MINT macht“, so Smrzka. „Das ist aber nicht so. Deshalb ist es toll, wenn in Sachbüchern Alltagsbezug hergestellt wird. Damit Kinder sehen, dass Chemie auf jedem Esstisch ist. Und dass Physik auch damit zu tun hat, wie ich mich bewege.“

Sachbuch für Kinder
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Auf eine Reise zum Mittelpunkt der Erde nimmt das Buch „Unter der Erde – Tief im Wasser“ (Moritz Verlag) mit

MINT-Fächer hätten zudem eine starke Zuschreibung als „männlich“. Das spiegelt sich auch in Kinderbüchern wider: Indirekt werden oft Buben mehr angesprochen, indem sie in der Handlung die Hauptrolle bekommen und Mädchen die Nebenrolle. Dass Mädchen sich per se weniger für Technik und Naturwissenschaften interessieren, glaubt Smrzka nicht: „Erwachsene müssen sich da selbst an der Nase nehmen: Es liegt auch an uns, für was sich Kinder interessieren. Wenn wir davon ausgehen, dass Mädchen nur Freundschaftsgeschichten mit Pony mögen, dann treffen wir Annahmen.“

„Anbieten und zutrauen“

Frauen sind in MINT-Berufen unterrepräsentiert. Um den Frauenanteil zu erhöhen und generell mehr Schülerinnen und Schüler für MINT-Studien, etwa an den technischen Universitäten, zu begeistern, gibt es viele Aktionen und Initiativen. Denn wie auch die letzte PISA-Studie zeigt: Das Interesse an MINT-Fächern wie Mathematik, Physik und Chemie ist in Österreich gering.

„In Kooperation mit dem Verein ScienceCenter-Netzwerk hatten wir in der Bücherei letzten Sommer im Rahmen des Wiener Ferienspiels eine Experimentierwerkstatt mit Workshops zu MINT-Themen“, erzählt Smrzka. Eine Gruppe Mädchen habe sich voller Begeisterung ins Elektrobasteln hineingehängt. „Das geht, wenn man es ihnen anbietet und zutraut. Wenn man das nicht tut, sagt man ihnen indirekt: Das ist nicht Eures.“

„Pinkifizierung“ der Kinderliteratur

Dem Trend, den MINT-Bereich zu fördern, hat sich auch der Buchmarkt angeschlossen. Doch richten sich Sachbücher, die sich mit Technik und Naturwissenschaften beschäftigen, nun mehr an Mädchen, um deren Interesse zu wecken? Oder mehr an Buben, weil MINT-Themen noch immer oft als Bubenthemen gelten? Einige MINT-Sachbücher adressieren besonders Mädchen, sagt Smrzka: „Aber wenn Verlage glauben, Mädchen nur mit Glitzereinschlag für diese Themen begeistern zu können, dann reproduzieren sie damit Vorurteile.“ Überhaupt sei die zunehmende „Pinkifizierung“ der Kinderliteratur ein unerfreulicher Trend.

Sachbuch für Kinder
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Mit dem Buch „Richtig giftig“ (Atlantis Verlag) lernen Kinder die gängigen Gefahrensymbole kennen

Dass Buben und Mädchen in Kinderbüchern nur selten gleichberechtigt sind, zeigte unlängst auch eine Datenrecherche der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“): Während Buben häufiger außergewöhnliche, spannende und auch gefährliche Erfahrungen machen, kreisen Geschichten, in denen Mädchen die Hauptrolle spielen, um Themen wie Tiere, Schule und Familie und verlassen die bekannte Alltagswelt weniger. Und das sei ein Problem, so das Fazit der „SZ“, „denn Kinderbücher bilden, prägen, sozialisieren, erziehen mit. Und sie können die Welt verändern (…).“

Die besten Bücher seien solche, die für beide Geschlechter und viele Altersgruppen funktionieren, sagt Smrzka: „Meine Utopie ist, dass wir keine speziellen Mädchenbücher mehr ,brauchen‘.“ Bei der MINT-Förderung gar nicht zwischen Mädchen und Buben zu unterscheiden gehe allerdings an der Realität vorbei. „Ich behandle Mädchen aber nicht anders, weil sie Mädchen sind. Sondern weil sie in dieser Gesellschaft mit Zuschreibungen groß werden. Wenn wir Mädchen anders fördern als Buben, dann um einen Kontrapunkt zu setzen.“

„MINT-Fächer haben diesen Nimbus“

Aber macht es überhaupt einen Unterschied, ob Kinder sich schon früh mit Sachbüchern zu technischen und naturwissenschaftlichen Themen beschäftigen oder nicht? Ja, sagt Smrzka: „MINT-Fächer haben diesen Nimbus: Das ist nur etwas für Gescheite. Und Mathematik als Horrorfach ist ein starkes Klischee in vielen Jugendbüchern. Wenn Kinder sich schon von klein auf damit beschäftigen, tun sie sich leichter und denken später vielleicht nicht: ,Oh, jetzt kommt Physik, das wird sicher schwierig.‘“ Die Begeisterung für MINT eröffne zudem interessante Berufsaussichten, und die Auseinandersetzung mit Wissenschaft schärfe kritische Geister.

Sachbuch für Kinder
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„Professor Astrokatz“ (NordSüd Verlag) erklärt nicht nur Physik, sondern auch, wozu es Wissenschaft überhaupt gibt

Sachbücher, die mehr bieten als langweilige Erklärtexte neben unkreativen Abbildungen, können aber nicht nur Berührungsängste mit MINT-Themen abbauen, sondern auch die Sprach- und Lesekompetenzen erhöhen. Gerade für die Leseförderung hat es viele Vorteile, statt immer nur Geschichten auch einmal ein Sachbuch auszusuchen.

„Manche Menschen, Kinder wie Erwachsene, lesen einfach lieber Sachbücher als Geschichten“, so Smrzka. Sachbücher hätten zudem ein anderes Vokabular und erweitern so den Wortschatz. Außerdem könne man bei Sachbüchern das Lesen mit forschenden Aktivitäten verbinden. „Wenn man Experimente macht, gibt es immer wieder Kinder, die, obwohl sie das sonst nicht gerne vorlesen, plötzlich die Handlungsanweisung laut lesen, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht.“

Ein Buch für die ganze Familie

Aktuell sei zu beobachten, dass die Vielfalt auf dem Sachbuchmarkt zunimmt. „Ein klassisches Kindersachbuch hatte bisher eine Doppelseite zu einem Thema und Fotos oder realistische Bilder“, so Smrzka. Dieses Format funktioniere immer noch sehr gut, aber es gebe immer mehr andere, spannende Formen: mehr Vielfalt beim Text, etwa durch eine Rahmenhandlung oder eine Erzählfigur. Und mehr Vielfalt bei den Bildern, etwa durch künstlerische Bilder – „derzeit gerne auch im Retrolook“.

Sachbuch für Kinder
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Höher als Big Ben: Zur Baumspezialistin wird man mit dem Buch „Bäume“ (Gerstenberg Verlag)

Auch Medienkombinationen sieht man zunehmend: Bücher mit Lesestift, der digitale Informationen mittransportiert – „die gehen wahnsinnig gut“ –, oder auch Bücher in Kombination mit Apps. Im Trend seien auch All-Age-Bücher: Bücher ohne Altersempfehlung. Diese seien anspruchsvoller und toll zum Miteinanderlesen, so Smrzka, „zum Beispiel mit den Großeltern“.

Was macht ein gutes Sachbuch aus?

Apropos Großeltern: Gibt es Tipps, wie man ein passendes Sachbuch für das Enkerl findet? „Oft kommen Erwachsene in die Bücherei und möchten sich ein Buch für ein Kind empfehlen lassen“, erzählt Smrzka. Meist heiße es dann: „für ein neunjähriges Mädchen“ oder „für einen siebenjährigen Buben“.

Barbara Smrzka
Barbara Smrzka
Barbara Smrzka ist Diplomingenieurin und hält Workshops zum Thema Leseförderung mit MINT

Weder Geschlecht noch Alter seien aber entscheidend für die Wahl eines Buches. „Meine Gegenfrage lautet dann: Was interessiert das Kind? Und wie gut ist sein Lesevermögen: altersentsprechend, überdurchschnittlich oder eher verzögert?“, so Smrzka. Das seien die beiden Informationen, von denen man bei der Wahl eines Buches ausgehen sollte. Vor allem für Kinder, die sich mit dem Lesen schwertun, sei es wichtig, von ihren Interessen auszugehen.

Und was macht nun ein gutes Sachbuch aus? „Die besten Sachbücher liefern nicht nur Antworten, sondern stellen Fragen in den Mittelpunkt“, sagt Smrzka. „Und sie erzählen, wie Wissenschaft und Forschung funktionieren: Was ist ein Experiment? Was ist eine wissenschaftliche Erkenntnis? Gute Sachbücher zeigen, dass die Wissenschaft lebendig ist. Sie thematisieren zum Beispiel, was wir heute in der Physik wissen und was wir noch nicht wissen. Gute Sachbücher machen uns neugierig auf die Welt.“