Schriftsteller Gerhard Roth
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Gerhard Roth

Die Hölle, das sind wir

Wenn Gerhard Roth Spannungsliteratur schreibt, dann ist das keine Krimi-Stangenware, sondern ein vielschichtiger Kriminalroman. Nun ist mit „Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier“ der zweite Venedig-Roman rund um den Übersetzer Emil Lanz erschienen.

Roth ist sein Platz in der Literaturgeschichte längst gewiss. Gefeiert für seine Romanzyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“, erhielt er 2016 den Großen Österreichischen Staatspreis. In seinem Werk erweist er sich als Tiefenpsychologe der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse, seine Bücher sind Wurmlöcher in die Vergangenheit. Dabei spielt Roth Jo-Jo mit den Leserinnen und Lesern, er lässt sie tief eintauchen in die Kulturgeschichte, um sie sodann wieder an die Oberfläche der Gegenwart zu holen, die, so suggeriert er, nur die Spitze des Eisbergs ist.

Schon im ersten Teil seiner Venedig-Reihe, „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“, ließ Roth seine Protagonisten eine mörderische Hetzjagd durchstehen, die sie an geschichtsträchtige Schauplätze führte, und so es ist es auch diesmal. Der Übersetzer Lanz ist lebensmüde, recht bald nach dem Anfang des Buches folgt man ihm mit dem Vaporetto auf die venezianische Insel Torcello, wo er sich umbringen möchte.

Morbider Rummelplatz

Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Aus Suizid wird Mord – aber nicht seiner. Lanz wird Zeuge eines Verbrechens und in weiterer Folge zum Gejagten eines mysteriösen Verbrechersyndikats. Auf der Flucht findet er Liebe, hadert mit ihr, verstrickt sich immer mehr in die Machenschaften der Verbrecher auf der einen Seite und in jene seines nicht weniger mysteriösen Beschützers auf der anderen Seite.

Schriftsteller Gerhard Roth
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Gerhard Roth 2017 vor dem Burgtheater, wo anlässlich seines 75. Geburtstages Texte von ihm gelesen wurden

Vom Suizid über den Mord, vom Friedhof San Michele als einem der zentralen Schauplätze, von den historischen Betrachtungen bis hin zur Bildsprache ist das Buch todesschwanger. Einerseits so, wie es sich für einen ordentlichen Kriminalroman gehört, andererseits weit darüber hinaus, oder, besser gesagt, tiefer hinein. Das untergehende Venedig, über das ein Falke seine Schwingen ausbreitet, ist Roths Rummelplatz. Das Endspiel gilt immer dem Tod, dem großen Unsichtbaren; der hat noch nie verloren.

Buchhinweis

Gerhard Roth: Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier. S. Fischer, 368 Seiten, 25,70 Euro.

Wo das Tageslicht durchbricht

Und der Rest, das „Dazwischen“ des Alltags? Das Warten auf den Tod, das sich die Menschheit seit Tausenden von Jahren mit Kultur vertreibt? Dort findet sich in verborgenen Winkeln die wahre Schönheit, wenn schon nicht die Wahrheit: „Unkraut, das zwischen Betonplatten aus dem Boden wuchs, eine Wolke, ein Regentropfen, das Muster in einem Stein, das Geflimmer von Partikeln in der Sonne. Es war, als wollte ihm sein Gehirn zeigen, wie das Übersehene selbst eine Welt für sich darstellte. (…) Doch das waren nur Glassplitter unter einem Küchenschrank, also etwas, das irgendwann ans Tageslicht kommt. Wie aber hatte das zersplitterte Gefäß ausgesehen, und wie sah die verborgene Welt überhaupt aus? Die Dunkle Materie, wie die Physik sie bezeichnete?“

Roth: Produktiv und eigenständig

Der 76-jährige Gerhard Roth zählt zu den vielseitigsten, produktivsten und eigenständigsten Autoren des Landes. Soeben ist der zweite Teil seiner Venedig-Trilogie erschienen.

Der Beantwortung dieser Frage ist das Werk Roths gewidmet. Der „Dunklen Materie“ spürt er nach von der Steiermark bis auf den Berg Athos, in den Weltregionen, in der Art brut, sie erkundete er zuletzt fotografisch in der mikroskopischen Welt von Rinde, Rost und Schimmel. Alleine ist Roth dabei nie, er hat namhafte Mitstreiter, auf die er sich beruft. Das kann einmal Dante sein, einmal Franz Kafka, oder wie diesmal, in „Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier“ der Filmemacher Luis Bunuel, William Shakespeare, indische Mogulmaler – und viele, viele andere.

Bis die Gondeln Trauer tragen

Was bei anderen Namedropping ist, bettet Roth ein in eine komplexe Universalphilosophie, die er sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erarbeitet hat und in die er mit seinen Büchern kleine Einblicke gibt. Und noch etwas: Während bei einem Dan Brown etwa die Geschichte nur als Element des Storytelling gebraucht wird, sind Roths Bücher Kippbilder: Je nachdem, wie man sie betrachtet, stützt die Romanhandlung die historischen Betrachtungen – oder umgekehrt; so lange, bis die Gondeln Trauer tragen.