Silhouetten von Frauen mit Smartphones vor WhatsApp-Logo
Reuters/Dado Ruvic
Falschinformation

Das WhatsApp-Problem bei der EU-Wahl

Die EU-Wahl naht – und damit wächst in Brüssel die Angst vor Desinformation, Einflussnahme und Falschnachrichten. Seit Jahren versucht die EU, Facebook und Co. an die Kandare zu nehmen. Doch mit jedem Leck, das geschlossen wird, geht ein neues auf: So sorgten zuletzt in mehreren Ländern über WhatsApp verbreitete Falschnachrichten für Aufmerksamkeit. Eine Lösung dafür zu finden dürfte aber noch schwieriger sein als bei Plattformen.

Spaßige Videos oder Fotos, Spruchbilder und der nicht totzukriegende Kettenbrief: Auf WhatsApp wird allerhand weitergeleitet. Nicht immer handelt es sich aber um leichte Kost. Dass der weltweit beliebteste Messenger, der zu Facebook gehört, auch im großen Stil für politische Stimmungsmache verwendet wird, hat sich bei den Wahlen in Brasilien, Indien und zuletzt auch Spanien gezeigt. Nun wird befürchtet, dass das auch bei der EU-Wahl der Fall sein könnte.

Der Umgang damit sorgt für große Fragezeichen. Das Thema ist besonders delikat, weil die Beeinflussungsversuche auf WhatsApp in Kanälen für private Kommunikation stattfinden. In diesen irgendeine Form der Kontrolle auszuüben würde erheblich mit der Privatsphäre und Meinungsfreiheit kollidieren. Dazu kommt, dass WhatsApp-Nachrichten verschlüsselt sind. Nur Sender und Empfänger können sie lesen, nicht einmal WhatsApp kann die Inhalte von Nachrichten analysieren.

Heikel, weil privat

Das ist gut für die Privatsphäre; gleichzeitig wird der Messenger dadurch auf gewisse Weise zu einer Art Blackbox. Falschinformationen lassen sich effizient einschleusen, und es lässt sich kaum ermitteln, wie groß das Ausmaß an Falschnachrichten, Propaganda und Beeinflussungsversuchen auf WhatsApp tatsächlich ist. Zudem ist es schwierig, die Urheber zu finden – verschärft wird das dadurch, dass die großen Plattformen ihre Daten nicht herausgeben. Weg fällt auch das Korrektiv einer breiten Öffentlichkeit: Auf Sozialen Netzwerken kann schon ein Blick in die Kommentare reichen, um eine Fälschung zu identifizieren. Auch eine Moderation kann in privaten Kanälen nur durch Sender und Empfänger stattfinden.

Dazu kommt die enorme Verbreitung von WhatsApp: Die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer liegt weltweit bei geschätzten 1,5 Milliarden, in Österreich nutzten laut einer Studie der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR) von 2017 73 Prozent die App – heute sind es wohl noch einmal mehr. Gruppen auf WhatsApp können bis zu 256 Mitglieder haben – und durch das Weiterleitungssystem kann sich ein beachtlicher Schneeballeffekt ergeben. Und weil man den Sender oder die Senderin auf WhatsApp in vielen Fällen auch persönlich kennt, gibt es möglicherweise auch bei fragwürdigen Nachrichten einen Vertrauensvorschuss.

Taskforce für Desinformation zurückhaltend

In Brüssel beschäftigt sich unter anderem die Taskforce East StratCom mit dem Thema Desinformation und Einflussnahme. Die beim Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) angesiedelte Gruppe mit fünf Millionen Euro Budget wurde gegründet, um dezidiert russische Desinformation und Propaganda zu analysieren und publik zu machen. Dem Land wird bekanntlich vorgeworfen, dass es Einfluss auf Volksentscheide wie die US-Wahl, das Brexit-Referendum und die Frankreich-Wahl nehmen wollte. Dafür gebe es mittlerweile „robuste Hinweise“.

Nach möglicher WhatsApp-Beeinflussung gefragt, gibt man sich dort zurückhaltend – eben, weil man nur Inhalte analysieren könne, die öffentlich verfügbar sind. An der Problematik zeige sich aber gut, dass es „immer mehr technische Möglichkeiten“ zur Einflussnahme gebe und das Thema stetig komplexer werde, so Lutz Güllner, Referatsleiter Strategische Kommunikation beim EAD, gegenüber ORF.at.

Russland-Einmischung: Gefahr „durchaus hoch“

Einmischungsversuche Russlands bei der EU-Wahl hält die Taskforce angesichts der Ereignisse u. a. in den USA und Großbritannien grundsätzlich aber für möglich: „Die Gefahr ist durchaus hoch“, so Güllner. Wie East StratCom auf seiner Homepage EUvsDisinfo.eu schreibt, ziele die Einflussnahme derzeit darauf ab, die Menschen vom Wählen abzuhalten. Dazu werde ihnen suggeriert, dass ihre Stimme ohnehin nichts zähle, eine Handvoll an Eliten über die Politik entscheide und das Parlament machtlos und handlungsunfähig sei.

Warnung vor Anti-EU-Propaganda vor Wahl

Wenige Wochen vor der EU-Wahl warnt die EU-Kommission vor Desinformationskampagnen. Diese würden darauf abzielen, Misstrauen zu schüren.

Dass es nicht immer um direkte Beeinflussung gehe, betonte auch Güller. „Manchmal geht es nicht um die Wahlen, sondern um den Kontext, den Unterton, die Hintergrundstimmung.“ Dabei würden nicht zuletzt Themen gesetzt: Etwa dass die EU undemokratisch und am Ende sei oder dass die Werte des Westens verrohten. Es gehe darum, „ein eigenes Bild aufzubauen, dass es eine Alternative zur EU und zum Westen gibt“. Dazu nutzte Russland „eine ganze Reihe von Taktiken und Zielsetzungen“.

Spanien: Conchita und ein geheimer Katalonien-Deal

Genau das ließ sich auch im Fall Spanien beobachten. Dort hat es laut der Bürgerrechtsbewegung Avaaz vor der Wahl eine regelrechte „Desinformationswelle“ via WhatsApp gegeben. Vielfach geteilt wurde dort unter anderem ein Bild von Conchita Wurst und einem Begleiter am Opernball – allerdings mit der falschen Bildüberschrift, dass es sich um den luxemburgischen Premier Xavier Bettel und seinen Ehemann handle. Das „Ende der Welt ist nahe“, so der Text in der Nachricht.

Andere Nachrichten zielten darauf ab, Parteien, Politikerinnen und Politiker zu diskreditieren. So wurde dem sozialistischen Premier Pedro Sanchez ein Geheimdeal zur Unabhängigkeit Kataloniens unterstellt – ohne Faktengrundlage. Ebenfalls machte ein Bild des rechten Vox-Politikers Santiago Abascal die Runde, auf dem er ein Megaphon verkehrt herum zu halten scheint. Das Bild wurde aber manipuliert, es existiert ein Originalfoto.

Die Reichweite der Falschnachrichten und Beeinflussungsversuche lässt sich aufgrund der Struktur von WhatsApp schlecht einschätzen. Deswegen hat Avaaz zusätzlich eine Umfrage in Auftrag gegeben, um zu ermitteln, wie viele Spanierinnen und Spanier über WhatsApp mit Beeinflussungsversuchen in Berührung gekommen sind. Das Ergebnis: 9.6 Millionen potenzielle Wähler haben derartige Inhalte erreicht – das wären rund 26 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. WhatsApp liegt damit nur knapp hinter Facebook mit rund 27 Prozent – mehr dazu in fm4.ORF.at.

Zeitsperre für Weiterleiten gefordert

WhatsApp hat im vergangenen Jahr an ersten Schrauben gedreht, um die massenhafte Weiterleitung von Falschnachrichten einzudämmen. Damals hatte eine durch WhatsApp-Gerüchte ausgelöste Lynchmordserie in Indien schockiert. Als Reaktion hat WhatsApp Anfang des Jahres die Weiterleitungen kenntlich gemacht und die Weiterleitungsfunktion eingeschränkt – seither können Nachrichten nur mehr an fünf statt an 20 Personen weitergeleitet werden.

Diese Beschränkung kann aber leicht umgegangen werden, indem man die Nachrichten einfach in mehreren Schritten weiterleitet. Avaaz fordert deswegen, dass es eine stündliche Begrenzung für Weiterleitungen geben solle. WhatsApp teilte zudem auf ORF.at-Anfrage mit, dass man Algorithmen einsetze, um Accounts zu identifizieren und zu sperren, die automatisiert arbeiten oder große Mengen an Nachrichten verschicken.

Effekt unklar

Klar ist, dass Desinformationskampagnen existieren – ob sie letzten Endes aber überhaupt einen Effekt haben, weiß man nicht. „Ja, es gibt solche Kampagnen – sogar mehr, als wir dachten. Aber ihre Wirkung wird überschätzt“, so Simon Hegelich von der Hochschule für Politik in München, gegenüber der dpa. Eine Existenz belege aber noch keinen Effekt. „Ich würde mich davor hüten, zu sagen, dass es einen konkreten Impact gibt“, sagte auch Alexander Fanta im ORF-Interview. Er beobachtet für das Portal Netzpolitik.org die EU-Digitalpolitik. „Es ist völlig unklar, ob es einen tatsächlichen Effekt gibt. Es gibt zu wenig empirische Basis.“

Er spricht sich grundsätzlich für mehr Forschung zu dem Thema aus: „Wir haben keine klare, einheitliche Definition davon, was Desinformation eigentlich ist“, so Fanta. Zu wenig wisse man auch darüber, wer die Urheber seien und wie sich Falschinformationen verbreiten. Angesichts der fehlenden Wissensgrundlage sei es auch heikel, Regulierungen zu machen. Entscheidend sei es, dass die großen Plattformen transparenter agieren und mehr Daten zur Verfügung stellen. Eine große Rolle spiele auch die Medienbildung der Bevölkerung.