Der ungarische Premierminister Viktor Orban bei seinem Besuch in Yad Vaschem
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Israelische Soziologin

„Rechtspopulisten manipulieren Schoah-Gedenken“

Der weltweit beobachtbare Aufstieg von rechtspopulistischen Politikern hat Folgen für das Gedenken an den Holocaust und dessen Bedeutung als Grundlage für politisches Handeln. Davon zeigt sich die israelische Kultursoziologin Irit Dekel im Interview mit ORF.at überzeugt. Denn deren Aussagen „manipulieren das Schoah-Gedenken“, so Dekel. Mittel- und langfristig sieht sie darin freilich auch eine Chance.

In verurteilenden Aussagen über das Grauen der Schoah von Politikern wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, Italiens Innenminister Matteo Salvini und FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache und deren Bekenntnissen zu einem „Nie wieder“ sieht Dekel vor allem Lippenbekenntnisse, nicht ehrliche Überzeugung oder gar einen Sinneswandel. Vielmehr manipulierten sie das Holocaust-Gedenken „für ihre eigenen Zwecke“.

Denn deren Politik sei oft das Gegenteil dessen, was die Lehre aus dem Holocaust sein müsse – nämlich das Ausschließen von Gruppen, Diskriminierung und rassistische Ideologie aufzuzeigen sowie Verfolgten und Schutzbedürftigen zu helfen. Rechtspopulistische Politiker „benutzen Juden und den Holocaust, um ganz viele unkoschere Sachen koscher zu machen“.

In diesem Zusammenhang übt Dekel auch Kritik am eben erst wiedergewählten israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Dieser knüpfte enge Beziehungen etwa zu Ungarns rechtspopulistischem Regierungschef Orban – trotz dessen antisemitischer Wahlkampagnen und bewundernder Aussagen über Miklos Horthy, den faschistischen ungarischen Staatschef, der mit Hitler-Deutschland kooperierte.

Auch Italiens rechtsgerichteter Innenminister Salvini wurde mit allen Ehren empfangen, wenige Wochen später auch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Dieser behauptete – fälschlicherweise – kurz nach seinem Besuch in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem, Hitlers Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei (NSdAP) sei eine linksgerichtete Bewegung gewiesen.

Yad Vashem
ORF.at/Gerald Heidegger
Jad Vaschem ist sehr symbolisch angelegt: Am Ende der Holocaust-Ausstellung gelangen Besucher zum Balkon, der einen Panoramablick auf Jerusalem eröffnet.

Umstrittene Besuche in Jad Vaschem

Erst vor Kurzem wurde Netanjahu vom britischen Magazin „Economist“ zum Vorbild für alle populistischen Politiker erklärt. In Israel gibt es neben Zustimmung allerdings auch heftige Kritik an Netanjahu, der wie kaum ein israelischer Politiker zuvor sein Land polarisiert. Auf Kritik stößt dabei unter anderem, dass er aktiv Bündnisse mit anderen Rechtspopulisten im Ausland sucht – und dabei, nach Ansicht seiner Gegner, bisher geltende Grundsätze ignoriert. Etwa jenen, antisemitischen oder offen ausländerfeindlichen Politikern nicht durch direkten Kontakt Legitimität zu verleihen. In Israels zentraler Schoah-Gedenkstätte Jad Vaschem, die allen offen stehen will, seien die Besuche prominenter Rechtspopulisten besonders im Rahmen offizieller Visiten mittlerweile genau deshalb höchst umstritten, so Dekel.

Vortrag zu Schoah-Gedenken

Irit Dekel, derzeit als Fellow am Zentrum für Versöhnungsforschung der Universität Jena tätig, hielt diese Woche auf Einladung des Center for Israel Studies einen Vortrag über neue Zugänge zum Holocaust-Gedenken an der Universität Wien.

Warnung vor Instrumentalisierung

Der Holocaust sei ein zivilisatorischer „Weltzusammenbruch“ gewesen, so Dekel. Umso gefährlicher sei es, wenn Juden und das Gedenken an die Schoah „objektifiziert“ würden – also instrumentalisiert würden für andere Zwecke, etwa gegen muslimische Bürger oder Migranten sowie im politischen Kampf gegen islamistische Bewegungen, warnt die Soziologin im ORF.at-Interview. In den Reden vieler Populisten in Österreich und anderswo in Europa würden Juden geradezu „geliebt“. Aber dieses Reden sei „ganz klar kodiert“ und es diene dazu, „rassistische Ideologie und Politik zu verbergen und zu legitimieren“.

Der Holocaust und das daraus abgeleitete Ziel, dass das nie wieder passieren darf, waren und sind nicht nur für Israel, sondern auch für Europa die zentrale moralische Grundlage. Dekel befürchtet nicht, dass durch die aktuelle – teilweise – Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens, das Erinnern daran dauerhaft beschädigt werden könnte.

Yad Vashem
ORF.at/Gerald Heidegger
Die Halle der Namen ist – nicht nur symbolisch – das Zentrum der Jad-Vaschem-Ausstellung: Hier werden die Namen und Lebensgeschichten aller im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden aufbewahrt. Davor werden die verschiedenen Stationen der Judenvernichtung beschrieben.

„Kein Ablaufdatum“

Das Gedenken habe „kein Ablaufdatum“, werde sich aber sicher „deutlich verändern“ – auch weil die dritte und vierte Generation kein so unmittelbares Naheverhältnis mehr hätten. Aber es gebe noch immer neue Aspekte und Perspektiven zu beschreiben und zu erforschen, etwa die Frage, was Täter fühlten. Es werde immer wichtiger, ganz bewusst auch darüber nachzudenken, wie das singuläre Verbrechen der Nationalsozialisten künftig erinnert wird. Etwa, was man mit den Repräsentationen dieser Erinnerung – von den Mahnmälern über die ehemaligen Konzentrationslagern bis hin zu den Aufnahmen von Überlebenden, Tätern oder Augenzeugen – mache und wie man sie nütze.

Sie hoffe, dass viel mehr verschiedene Gruppen, gerade selbst von Verfolgung betroffene, „dazukommen werden, um von den Ereignissen zu lernen“. Wichtig sei es etwa, dass Muslime den Raum bekämen, der Schoah gedenken zu können.

Gedenktag 5. Mai

Die Befreiung des KZ Mauthausen durch Alliierte Truppen am 5. Mai 1945 war ein Wendepunkt in der österreichischen Zeitgeschichte. Doch erst viel später, 1996, wurde das offiziell anerkannt. Seither begeht die Republik alljährlich am 5. Mai den Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Für politischeres Denken

Und Dekel sieht in der aktuellen Entwicklung auch eine Chance, nämlich jene, dass das politische Denken im Erinnern geschärft wird. „Wir müssen den Mut haben zu sagen, dass das Gedenken nicht apolitisch ist.“ Auch in Israel sei hier einiges in Bewegung. Nicht nur gebe es zu den staatlichen Gedenkfeiern schon seit Längerem „Gegenrituale“ – meist Veranstaltungen in kleinerem Rahmen, etwa „Sikaron baSalon“ („Erinnerung im Wohnzimmer“).

Darüber hinaus gab es bisher einen unhinterfragten, überparteilichen Konsens zum Gedenken. Den gebe es in dieser breiten Form nicht mehr. Sehr wohl aber gebe es viele verschiedene Gruppen, die die Erinnerung wichtig fänden. Darauf aufbauend müsse eine neue, bewusstere Grundlage geschaffen werden, findet Dekel. Aus Perspektive der Menschenrechte könne man das Leiden anderer Minderheiten und Verfolgter heute mit dem Holocaust verknüpfen, ohne es freilich gleichzusetzen.

Auf die Frage, ob die Erinnerung an die Schoah in 50 Jahren in Europa überhaupt noch jemanden interessieren werde, betont Dekel, das hänge von der Gesellschaft ab. Denn Erinnerung sei ein soziales Produkt. Interessiere sich die Gesellschaft dann nicht mehr dafür, also würde nicht darüber geredet, erzählt und keine Bedeutung darin gefunden – „dann wird es nicht da sein“. Das wäre allerdings „ein schlimmes Zeichen“, würde es doch heißen, dass sich die Menschen nicht für ihre Identität und ihr Erbe interessierten.

Ob Erinnerungsarbeit als wertvoll wahrgenommen werde, hänge letztlich davon ab, ob es eine demokratische Kultur gibt, die der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger verpflichtet ist. Jene, die die Holocaust-Erinnerung pflegten, unterstützten umgekehrt demokratische Kulturen und „machen diese Erinnerung im Nachdenken über und der Abwehr von nationalistischer und rassistischer Ideologie und Politik nutzbar“.