Wald
ORF.at/Christian Öser
UNO-Bericht schlägt Alarm

Eine Million Arten vom Aussterben bedroht

Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sind laut einem UNO-Bericht vom Aussterben bedroht. Viele könnten bereits „in den kommenden Jahrzehnten“ verschwinden, heißt es in dem Bericht zur weltweiten Artenvielfalt, den der Weltrat für Biodiversität (IPBES) am Montag in Paris veröffentlichte. Die Wissenschaftler fordern darin „tiefgreifende Änderungen“ zum Naturschutz.

In seinem ersten globalen Bericht zum Zustand der Artenvielfalt reiht der Weltbiodiversitätsrat beängstigende Fakten aneinander: Von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit sei rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht.

In den meisten Lebensräumen auf dem Land schwand die Zahl dort natürlich vorkommender Arten im Mittel um mindestens 20 Prozent, zumeist seit 1900, lautet eine weitere der Kernaussagen des Berichts. Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast 33 Prozent der riffbildenden Korallen und mehr als ein Drittel aller marinen Säugetierspezies sind bedroht.

Blumenwiese
AP/Winfried Rothermel
Auch die heimischen Wiesen verlieren an Vielfalt

„Menschheit lässt die Natur von der Erde verschwinden“

Auch bei Nutztieren schwinde die Vielfalt: Mehr als neun Prozent der zur Nutzung als Fleischlieferant oder Arbeitstier domestizierten Säugetierrassen seien bis 2016 ausgestorben, so der Bericht. Das Ausmaß des Artensterbens war in der Geschichte der Menschheit noch nie so groß wie heute – und die Aussterberate nimmt weiter zu. Die Forscher sprechen von einem Massenaussterben, das es in den vergangenen 500 Millionen Jahren erst fünfmal gab.

Besonders bedroht sind Insekten – ihre Zahl hat sich etwa in Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten bereits um rund 80 Prozent verringert. Viele Insekten hätten schlicht keine „Lobby“, so der Präsident des französischen Rechercheverbunds für Biodiversität, Jean-Francois Silvain. Eine Kakerlake etwa habe „nur eine kurze Lebenserwartung“, da der Mensch sie nur als Schädling und Krankheitserreger ansehe. Doch auch andere Arten sind bei Menschen nicht beliebt.

Beliebtheit schlägt sich auch in Forschung nieder

Spinnen, Maden, Ratten und Schlangen etwa sind äußerst nützliche Tiere – aber beim Artenschutz falle kaum Augenmerk auf sie, sagt der emeritierte Psychologieprofessor Hal Herzog von der Universität Western Carolina in den USA, der das Verhältnis des Menschen zu Tieren erforscht hat. Arten wie der Regenwurm wirkten „eher wie primitive Außerirdische als wie Tiere, mit denen ein Mensch sich identifizieren kann“.

Korallenriff
APA/AFP/Mohamed El-Shahed
Ein Riff im Roten Meer

Das betrifft auch die Forschung: Ob Delfine, Tiger oder Elefanten – für Studien zu „beliebten“ Tierarten können Wissenschaftler „leichter Geld auftreiben“, wie Frederic Legendre vom Museum für Naturgeschichte in Paris sagte, der unter anderem zu Kakerlaken und Termiten geforscht hat. Er war auch einer der Autoren einer Studie, die 2017 einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Präferenzen und Artenforschung nachweisen konnte.

Rasantes Bevölkerungswachstum als Beschleuniger

Die Menschheit lässt dem umfassenden Weltbericht zufolge in rasendem Tempo die Natur von der Erde verschwinden. Dafür gebe es inzwischen überwältigende Beweise, die ein unheilvolles Bild zeichneten, warnte der Vorsitzende des Weltbiodiversitätsrates, Robert Watson, am Montag. Drei Viertel der Naturräume an Land wurden vom Menschen bereits erheblich verändert, in den Meeren zwei Drittel.

Die Autorinnen und Autoren gewichteten die Hauptursachen für den verheerenden Wandel nach ihrer Bedeutung. Den größten Einfluss hat die veränderte Nutzung von Land und Meer, gefolgt von der direkten Ausbeutung von Lebewesen, dem Klimawandel, der Umweltverschmutzung und invasiven Arten. Die Bedeutung der Erderwärmung werde in den nächsten Jahrzehnten zunehmen und zumindest in einigen Bereichen weiter an die Spitze der Hauptursachen rücken.

Zahlreiche der im Bericht aufgelisteten Entwicklungen hängen eng mit dem rasanten Wachstum der Weltbevölkerung zusammen. So haben sich die landwirtschaftlichen Ernteerträge seit 1970 verdreifacht und der Holzeinschlag nahezu verdoppelt. 60 Milliarden Tonnen erneuerbare und nicht erneuerbare Rohstoffe und Ressourcen werden alljährlich abgebaut – fast doppelt so viele wie noch 1980.

Verschmutzung mit Plastikmüll verzehnfacht

Die mit Städten bebaute Gesamtfläche ist inzwischen mehr als doppelt so groß wie noch 1992. Gar verzehnfacht hat sich seit 1980 die Plastikmüllverschmutzung, zudem gelangen Unmengen Schwermetalle, Gifte und andere Abfallstoffe aus Fabriken in Gewässer, wie es in dem Bericht heißt.

Eine Million Arten bedroht

Von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten auf der Erde sind rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fordern nun tiefgreifende Veränderungen.

„Wir erodieren global die eigentliche Basis unserer Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen, Nahrungsmittelsicherheit und Lebensqualität“, so der Bericht weiter. Die Weltgemeinschaft müsse sich dringend abwenden von wirtschaftlichem Wachstum als zentralem Ziel hin zu nachhaltigeren Systemen, heißt es. Immer wieder verdeutlichen die Autoren und Autorinnen, dass der Verlust an Biodiversität kein reines Umweltthema ist, sondern auch Entwicklung, Wirtschaft, politische Stabilität und soziale Aspekte wie Flüchtlingsströme beeinflusst.

Aufruf zu Gegenmaßnahmen

Gravierende Folgen für Menschen weltweit seien inzwischen wahrscheinlich, warnen sie. Noch sei es aber nicht zu spät für Gegenmaßnahmen, so Watson, „aber nur, wenn wir sofort auf allen lokalen bis globalen Ebenen damit beginnen“. Es bedürfe fundamentaler Veränderungen bei Technologien, Wirtschaft und Gesellschaft, Paradigmen, Ziele und Werte eingeschlossen. Dringend nötig sind laut den UNO-Experten Änderungen bei der Landwirtschaft – sie müsse „nachhaltiger“ werden – und beim Konsum. Auch „effiziente“ Fischereiquoten sowie eine Reform öffentlicher Hilfen für den Naturschutz werden gefordert.

„Die Biodiversität und die Naturgaben für den Menschen sind unser gemeinsames Erbe und das wichtigste Sicherheitsnetz für das Überleben der Menschheit“, sagte die Argentinierin Sandra Diaz. Dieses Netz sei jedoch inzwischen bis fast zum Zerreißen belastet. Diaz, Ökologin an der Nationalen Universität Cordoba, ist neben Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) im deutschen Halle und dem brasilianischen Anthropologen Eduardo Brondizio Hauptautorin des IPBES-Berichts. „Wir müssen die Lebensqualität in den Mittelpunkt stellen und nicht das Wirtschaftswachstum“, so Brundizio.

Bericht als Grundlage auch für die Politik

Beteiligte Forscher und Forscherinnen hoffen, dem Artenschutz neuen Aufwind verleihen und einen Wandel in Richtung nachhaltiger Entwicklung anstoßen zu können. Ähnlich den Papieren des Weltrats IPCC für den Klimawandel soll der Artenvielfaltbericht einen international akzeptierten Sachstand zur Lage und zu möglichen Lösungen schaffen. „Politische Maßnahmen, Anstrengungen und Handlungen werden – auf allen Ebenen – nur erfolgreich sein, wenn sie auf bestem Wissen und Beweisen beruhen“, sagte Watson. Genau diese Grundlage stelle der neue Bericht bereit.

Für den Bericht trugen 145 Autoren und Autorinnen aus 50 Ländern drei Jahre lang Wissen aus Tausenden Studien und Dokumenten zusammen. Besonders wichtig ist der Bericht für die Weltartenschutzkonferenz 2020 in China. Dort sollen die Eckpunkte für den weltweiten Artenschutz nach 2020 festgelegt werden.

Initiative gegen Abholzung in Brasilien

Erste Initiativen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Druck auf die Politik aufzubauen, gibt es bereits. So forderten Hunderte Forscherinnen und Forscher sowie Vertreter von Ureinwohnern, dass die EU auf Brasilien Druck ausübt und das Land zur Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards zwingt – mehr dazu in science.ORF.at.