Andreas Schieder im ORF.at-Interview

1. Gerhard Kuchta: Offenbar haben viele Bürger das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz und -bereitschaft der EU verloren und sehen sogar kontraproduktive Tendenzen. Was werden Sie konkret dagegen tun – und weshalb sollten Ihnen die Bürger das glauben können?

Schieder: Ich glaub, einer der Gründe, warum dieses Gefühl da ist, ist, dass Europa nicht die Lösungen liefert, die man sich erwartet. Zum Beispiel in der Steuerpolitik, wo ein globaler Kaffeehauskonzern 18 Millionen Umsatz in Österreich macht, aber nur 800 Euro Steuern zahlt.

Und das gibt’s überall in Europa, und da wird’s Zeit, dass Europa diese Steueroasen beseitigt, und das wird immer deswegen blockiert, weil immer ein Finanzminister ausweicht, der Nein sagt. Und daher bin ich für Mehrstimmigkeit in Finanzfragen, damit endlich was weitergeht, als nur ein Beispiel, wie meiner Meinung nach die europäische Union besser und schneller entscheiden könnte.

2. Anonym: Wie gedenkt die SPÖ und wie gedenken Sie persönlich mit dem Problem Migration umzugehen? Vor allem vor dem Hintergrund, dass viele Wirtschaftsflüchtlinge/Betrüger den Flüchtlingsstrom nutzten, um in die EU zu gelangen und sich auf Kosten der EU-Bürger ein sorgenfreies Leben zu erschleichen? Warum wird jeder, der die „Willkommenspolitik“ kritisch sieht, sofort ins rechte Eck gestellt?

Schieder: Ich glaub, da muss man sagen: So ist es ja nicht, und Migration ist eine große Herausforderung, man muss aber auch nicht alles verteufeln, was passiert. Und wenn man’s nüchtern betrachtet, dann brauchen wir eine gemeinsame Hilfe vor Ort als Europa, wir brauchen einen gemeinsamen Außengrenzschutz.

Wir brauchen ein Asylsystem, das auch dazu führt, dass die Leute, die Asyl bekommen, auf alle Staaten aufgeteilt werden, und die, die keines bekommen, dass die wieder rasch zurückgehen. Und die Leute, die hier sind, dass man die auch möglichst schnell integriert. Und wenn das Europa gemeinsam schafft, dann ist, glaube ich, schon ein Stück weit was passiert. Kompliziert wird’s trotzdem bleiben.

3. M. R.: Wieso Sind Sie für eine Transferunion? Eine Transferunion macht nettozahlende Nordeuropäer ärmer, und sie hilft auch den südeuropäischen Empfängerländern nicht wirklich, weil der Zustand der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit perpetuiert wird. Die Droge des Transfergeldes macht ein bisschen glücklich und lähmt genau deshalb die eigene Tatkraft.

Schieder: Wenn man’s nüchtern betrachtet, dann haben wir in Europa einige Töpfe, wo auf europäische Regionen auch aufgeteilt wird. Und wenn wir in die Geschichte schauen, dann hat Burgenland zu Beispiel, als eine der Regionen in Österreich, die viele EU-Förderungen bekommen, auch sehr viel daraus gemacht.

Burgenland war ein Nachzügler und Burgenland ist jetzt ganz vorne mit dabei, und ich würde mir wünschen, dass viele andere europäische Regionen, die ebenfalls Gelder kriegen, es genauso gut machen wie das Burgenland. Und ich bin nicht dafür, dass man diesen Ausgleich in Europa abschafft, denn am Schluss muss man schauen, dass, wenn’s den armen Ländern auch besser geht, dann führt es auch dazu, dass es weniger Arbeitsmigration gibt, weniger Lohndruck, sondern in Wahrheit mehr Vorteile und höhere Löhne für alle.

4. Thomas Nothegger: Ich finde den Spruch „Mensch oder Konzern?“ auf den SPÖ- Plakaten gut gewählt für eine sozialdemokratische EU-Kampagne. Ist die SPE/SPÖ nach jahrzehntelanger Zusammenarbeit mit der EVP im Parlament noch glaubwürdig? Immerhin hätten SPE/Ö lange genug in Parlament und Rat Einfluss für mehr soziale Gerechtigkeit gehabt.

Schieder: Erstens einmal ist es leider so, dass in Europa die Konservativen mit den Liberalen in diesen wirtschaftspolitischen Fragen immer eine Mehrheit gehabt haben und auch den Kurs bestimmt haben, und wir treten gegen die Konzerne auf im Sinne von, dass wir finden: Auch die großen Konzerne sollen einen fairen Steuerbeitrag leisten.

Wir finden auch, dass die ganzen Düngemittelkonzerne, diese ganzen Konzerne die Glyphosat und andere Dinge erzeugen, eigentlich nicht über ihre Lobbyisten das Sagen haben sollten, sondern dass wir uns als Europa entscheiden, gesundes Essen, eine Landwirtschaft ohne Pestizide zu haben. Und wir sind auch nicht dafür, dass die am meisten gehört werden, die die meisten Lobbyisten haben, sondern dass Europa dorthin wieder hört, wo die Interessen der Menschen liegen.

5. Anonym: Wieso fördert die EU Atomkraftwerke, obwohl man nicht weiß, was man mit dem Atommüll macht? Und wieso gibt es überhaupt Atomkraftwerke, die nicht sicher sind, in der EU? Für Pommes gibt es eine Regelung, für Atomkraftwerke leider nicht!

Schieder: Da hat diese anonyme Fragestellerin oder Fragersteller vollkommen recht. Ich finde auch diese Pommes-Entscheidung dermaßen unnötig und gleichzeitig die Atomfrage extrem wichtig. Denn Atomkraft ist extrem gefährlich, wir sollten aussteigen. Und ich wäre dafür, dass wir Euratom umwandeln in eine Ausstiegsinstitution, eine Institution, die die Gelder dafür verwendet, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten, die noch Atomkraft haben, auch endlich aussteigen und aus dieser gefährlichen Technologie aussteigen.

Mir machen die Atomkraftwerke rund um Österreich, die alle noch dazu sehr unsichere Schrottreaktoren sind, große Sorge, und dagegen müssen wir auftreten.

6. Anonym: Ihre Meinung zum Labour-Kurs unter Jeremy Corbyn? Und falls diese eine positive ist: Wieso geht dann die SPÖ nicht in eine ähnliche Richtung, sondern folgt eher dem derzeitigen sozialdemokratischen Mainstream in Europa?

Schieder: Ich glaub, dass Jeremy Corbyn natürlich hauptsächlich britische Innenpolitik macht, daher kann man nicht alles vergleichen. Wo ich aber einer Meinung mit ihm bin, ist, wenn er sagt „for the many, not the few“, dann heißt das in Österreich eben: Mensch statt Konzern. Nämlich Politik zu machen für den einzelnen Staatsbürger, für die vielen in unserem Land und nicht für einzelne Superkonzerne und Superreiche.

7. Wolfgang Wühl: Für welche Maßnahme(n) werden Sie sich kurz- und längerfristig einsetzen, um der für die Klimakrise und alle anderen Umweltprobleme verantwortlichen massiven Überbevölkerung der Erde mit der Spezies Mensch zu begegnen?

Schieder: Der Klimawandel ist eine reale Gefahr. Ich kann mich selbst noch erinnern, auf der Hohen-Wand-Wiese im 14. Bezirk als Kind konnte ich dort noch Ski fahren – heute gibt’s keinen Schnee mehr.

Und daher, die erste Maßnahme, die wir machen müssen, ist eine europaweite CO2-Steuer einführen. Mit diesen Einnahmen aus der CO2-Steuer können wir den Klimafond speisen, mit dem wir dann auch Maßnahmen gegen den Klimawandel … Wärmedämmung, Effizienz, Forschungsmaßnahmen … und vor allem auch den Ausbau von einem europäischen Schnellzugsystem, dass wir weniger fliegen zwischen den Hauptstädten und mehr mit Schnellzügen fahren können.

8. Mag. Friedelwolf Wicke-Jabornegg: Ist es nicht längst überfällig, dass sich die Politik in Österreich – angesichts der Mitgliedschaft in der EU – von dem obsolet gewordenen Mythos von der immerwährenden Neutralität löst?

Schieder: Ich find, ganz und gar nicht. Ich glaube, dass in Zeiten wo die globalen Spannungen wieder mehr werden, wo wir Rüstungsausgabenniveau wie in Zeiten des Kalten Krieges wieder erreicht haben, wo so viele Waffen gekauft werden wie schon lange nicht mehr, gerade die Neutralität als Modell, wo man auch auf Diplomatie setzt, wo man auf Verhandlung setzt, wo man auf friedliche Lösungen setzt, wichtiger denn je ist. Daher nicht aufgeben die Neutralität, sondern sogar als Modell für ganz Europa empfehlen.

9. Hans Brantner: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass im gesamten EU-Raum menschenwürdige Mindestlöhne (z. B. mindestens 1.500 Euro /Monat bei einem 40-Stunden-Job) kommen? 25 Jahre nach dem EU-Beitritt diverser Staaten werden in vielen EU-Ländern immer noch Niedrigstlöhne bezahlt, von denen diese Menschen kaum leben können. Andererseits wird damit viel kaputt konkurriert.

Schieder: Der Kollege Brantner hat vollkommen recht. Was da passiert ist, dass durch diese Lohnunterschiede künstlich Konkurrenz zwischen Arbeitnehmern geschaffen wird. Wir haben in einzelnen europäischen Ländern, wie zum Beispiel in Bulgarien, einen Mindestlohn von knapp 300 Euro. Daher bin ich dafür, dass wir Mindestlöhne im Verhältnis zur Wirtschaftskraft des einzelnen Landes als ersten Schritt etablieren. Damit in Bulgarien der Mindestlohn von 300 Euro auf 500, 600 Euro einmal steigt. Weil, wenn das mal passiert, dann ist schon der erste Schritt getan. Im Endausbau wünsche ich mir natürlich, dass wir höhere Löhne überall haben, das heißt, auch einen Mindestlohn in Europa von 1.700 Euro ist sicherlich ein Ziel, das in nächster Zeit wichtig wäre. Aber jetzt müssen wir mal schauen, dass die schwachen Länder erst recht einmal Mindestlöhne einziehen im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft.

10. Franz Karner: Was muss sich in der Europäischen Union verändern, damit sich mehr Österreicher als Europäer sehen und mit den politischen Inhalten identifizieren können?

Schieder: Ich glaub, dass … es verändert sich gerade sehr viel, denn das, was in England, der Geist, der aus der Flasche gelassen worden ist, der Brexit, welche unkalkulierbaren negativen Folgen das bringt. Und ich glaub, und das ist auch mein tiefer Eindruck, wie ich jetzt herumgefahren bin in Österreich, dass sehr viele Leute dadurch auch merken, was wir eigentlich an der Europäischen Union haben. Es heißt Frieden, es heißt Reisefreiheit, es heißt Euro. Aber Europa hat auch viele Fragen die es nicht gelöst hat, zum Beispiel die Frage der sozialen Ungerechtigkeit, die Frage der Steuergerechtigkeit, die Frage des Klimawandels, und dafür brauchen wir auch eine bessere Europäische Union, aber da dürfen wir sie nicht kaputtmachen, sondern wir müssen sie besser machen.

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