Die geflohene Rahaf Mohammed al-Kunun
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Kronprinz unter Druck

Junge kehren Saudi-Arabien den Rücken

Mit der „Vision 2030“ will der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman sein ultrakonservatives Land modernisieren, den Jungen mehr Chancen und insbesondere Frauen mehr Freiheiten einräumen. Dennoch wächst die Zahl der Kritiker und Kritikerinnen, die Saudi-Arabien den Rücken kehren. Immer mehr Junge versuchen, sich ins Ausland abzusetzen.

Diese wachsende Diaspora aus vor allem jungen Frauen, Studenten und abtrünnigen Prinzen, die ins selbst gewählte Exil in Europa, den USA und Kanada fliehen, setzt das saudische Regime zunehmend unter Druck. Ihre offizielle Zahl ist im Verhältnis zur Bevölkerung von rund 33 Millionen Menschen zwar gering. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge zählte 2017 offiziell weltweit 815 saudische Asylanträge.

Das ist allerdings im Vergleich zu 2012 eine Steigerung um 318 Prozent, berichtete das US-Magazin „Foreign Affairs“. Und inoffizielle Zahlen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) betonte, dass es jedes Jahr in Saudi-Arabien Fluchtversuche gebe. Wer erwischt werde, müsse mit „schrecklichen Folgen“ rechnen.

Image- und Know-how-Verluste

Trotz aller in der Öffentlichkeit angestoßener Lockerungen reagiert das Königshaus mit Härte auf Regimegegner, fürchtet es doch um das Image seines Landes durch lautstarke Kritik der Diaspora im Ausland. Denn in Saudi-Arabien sei der Raum für freie Meinungsäußerung unter Kronprinz Salman deutlich kleiner geworden, beklagte HRW.

Flieht die Elite des Landes, geht auch wertvolles Know-how verloren. Durch Investitionen in die Bildung versucht Saudi-Arabien sich abseits vom Erdölbusiness weitere Standbeine zu erschließen und weniger abhängig von ausländischen Arbeitskräften zu werden. Es ist teuer, wenn gut ausgebildete Saudis ins selbst gewählte Exil gehen oder von Studienaufenthalten im Ausland gar nicht mehr zurückkehren, weil sie Repressionen fürchten.

Der Journalist Jamal Khashoggi
AP/Hasan Jamali
Der Regimekritiker und Journalist Khashoggi wurde in der Botschaft in Istanbul ermordet

Unbegründet ist diese Sorge nicht. Es reichen schon eine WhatsApp-Nachricht, ein Tweet und die Teilnahme an einem akademischen oder politischen Event, das gegenüber dem Regime als feindlich gesinnt erscheint, um auf einer Verdächtigenliste zu landen. Das ist dann verbunden mit einer engmaschigen Überwachung selbst im Ausland. Prominentestes Beispiel für dramatische Folgen ist die Folter und Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi.

Junge Frauen fliehen vor strengen Kontrollen

Das Regime ist ambivalent zwischen harten Repressionen und den – häufig als kosmetisch kritisierten – Versuchen der Lockerung. Die strikte Trennung von Männern und Frauen wurde inzwischen etwas aufgehoben, Frauen dürfen seit vergangenem Jahr auch Auto fahren. Von einer Gleichberechtigung der Geschlechter ist das Land jedoch noch weit entfernt: So benötigen Frauen für Reisen, ein Studium und die Ausübung bestimmter Berufe die Zustimmung ihres Vaters, Bruders, Mannes oder sogar Sohnes. Aktivisten, die sich für mehr Frauenrechte einsetzen, sitzen in Haft.

Die geflohene Rahaf Mohammed al-Kunun
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Die 18-jährige Rahaf Mohammed al-Kunun floh via Bangkok aus Saudi-Arabien und erhielt auf Ersuchen der UNO Asyl in Kanada

Es gibt immer mehr junge Frauen, die versuchen, Saudi-Arabien zu verlassen. Laut „Foreign Affairs“ flohen unter Kronprinz Salman mehr als 1.000 18- bis 25-Jährige vor strengen Kontrollen und in manchen Fällen auch vor physischem und sexuellem Missbrauch. Wer bei der Flucht erwischt wird und nach Saudi-Arabien zurückgebracht wird, hat mit noch härteren Repressionen zu rechnen.

Asyl in Kanada

Anfang des Jahres hatte der Fall von Rahaf Mohammed al-Kunun für Aufsehen gesorgt. Die 18-Jährige, die sich vom Islam losgesagt hatte, war wegen körperlicher und seelischer Misshandlungen vor ihrer Familie geflohen und wollte via Bangkok nach Australien reisen. Nach längerem Tauziehen gewährte ihr Kanada – auf Ersuchen der UNO – Asyl. Das belastete das angespannte Verhältnis Kanadas zu Saudi-Arabien noch weiter. Riad sieht es als Verrat an, wenn Asyl gewährt wird. Es befürchtet, dass mit dem Gewähren von Asylstatus andere zur Nachahmung ermutigt werden. Kunun schaffte es jedenfalls, ein offizielles neues Leben in Kanada zu starten.

Andere Fälle verlaufen weniger erfolgreich. Wenige Wochen nach dem Fall Kununs kamen zwei saudische Schwestern im Alter von 18 und 20 Jahren in die Schlagzeilen. Sie hatten zwei Jahre lang ihre Flucht ins Ausland geplant. Das Leben nach strengst islamischen Sitten, körperlicher Missbrauch und Perspektivlosigkeit hatte sie zu dem Schritt bewogen. Sie wollten nach Australien. In Hongkong wurde ihre Flucht aber entdeckt. Um einer erzwungenen Rückkehr nach Riad zu entgehen, blieben sie ohne Papiere in Hongkong.

Öffentliche Diskussion zugelassen

Die erfolgreich ins Exil geflohenen Saudis sind eine heterogene Gruppe, geeint in ihrem Widerstand zum Regime mit seiner eingeschränkten Meinungsfreiheit, Korruption und der Verletzung von Menschenrechten. Erst Ende vergangenen Jahres gab es eine gemeinsame Konferenz von Regimekritikern in London. Viele erheben in Medien und Kommentaren ihre Stimme im Westen gegen Riad.

Der Saudische Kronprinz Mohammad bin Salman
AP/How Hwee Young
Saudische Kritiker im Ausland setzen Kronprinz Salman zu

Je vereinter und größer die Diaspora gegen Saudi-Arabien auftritt, desto mehr kommt das Regime unter Druck. Nach dem Fall Kunun reagierte Riad und ließ – staatlich sanktionierte – öffentliche Diskussionen über ihre Flucht zu. Das könnte aber auch dazu führen, dass die Regierung von dem Thema ablenkt und die Schuld den Eltern der Flüchtenden zuschiebt, analysierte die Saudi-Arabien-Expertin Madawi al-Raschid von der London School of Economics für „Foreign Affairs“.

Unangenehme Prinzen

Ebenfalls unangenehm für das Regime sind abtrünnige Prinzen aus einem der Zweige des Königshauses. Das fordere den „Mythos von Solidarität und Zusammenhalt in der Königsfamilie“ heraus, so Raschid. Prinz Chalid bin Farhan Al Saud hatte sich schon 2013 vom Königshaus entfernt und aus seinem in Deutschland gewählten Exil begonnen, Kampagnen gegen Kronprinz Salman zu führen. Er warf der Königsfamilie Heuchlerei vor, Aktivitäten, die anderen verboten sind, wie Alkohol trinken und Partys feiern, selbst zu genießen.

Diese Kritik ist nicht ungefährlich. Dass das Königshaus seine Strategie gegenüber Prinzen geändert hat, zeigte sich bereits 2017, als zwei von ihnen – Alwalid bin Talal und Mutaib bin Abdullah im Ritz-Carlton Hotel in Riad in Gewahrsam genommen wurden. Andere wurden in Europa entführt, nach Saudi-Arabien gebracht und seither nicht mehr gesehen.