Claudia Gamon im ORF.at-Interview

1. Yvonne: Sehen Sie sich eher als wirtschaftsliberal oder als gesellschaftsliberal? Auf einer Skala von 1 (wirtschaftsliberal) bis 10 (gesellschaftsliberal), wo stehen Sie – wenn 5 nicht als Antwort gilt ;-))?

Gamon: Wenn Fünf nicht gilt, dann gilt Sechs für mich. Ich sehe mich als ganzheitlich liberal. Die Freiheit des Einzelnen steht im Mittelpunkt, ein selbstbestimmtes Leben. Aber gesellschaftspolitische Fragen sind für mich deshalb wichtig, weil die individuelle Freiheit hier ganz essenziell ist. Weil, wenn ich selber in meinem Leben nicht frei bin, weil ich nicht die Person heiraten kann, die ich heiraten möchte, zum Beispiel, dann hab ich keine Freiheit. Und deshalb fühle ich mich in dem Fall – wenn ich’s mir aussuchen muss, obwohl ich natürlich lieber Fünf nehmen würde – in dem Fall die Sechs nehmen.

2. Lu: Glauben Sie selbst ansatzweise daran, dass die „Vereinigten Staaten von Europa“ auch nur irgendwie möglich sind? Warum schreibt man sich so ein unrealistisches Ziel auf die Wahlkampffahne?

Gamon: Weil, wenn es niemand auf die Wahlkampffahne schreibt, dann wird es immer ein unrealistisches Ziel bleiben. Solange nicht einer einmal sagt: „Ich möchte das“ und sich auf die Reise begibt, um viele Menschen zu treffen, die das auch so sehen, und noch mehr Menschen davon zu überzeugen, dass das eine tolle Idee ist, dann wird es nicht mehr unrealistisch, sondern plötzlich Realität, weil wir uns plötzlich auf den Weg dorthin bewegen. Und ich bin ja nicht in die Politik gegangen, um es gemütlich zu haben, ich möchte die Menschen davon überzeugen, dass ich das für richtig halte und dass das etwas Gutes ist und Europa das braucht. Und deshalb setzen wir uns auch für mutige Dinge ein wie die Vereinigten Staaten von Europa.

3. Georg R.: Warum sehen Sie die Neutralität im Widerspruch zu einer EU-Armee? Sind Sie für die Abschaffung der Neutralität?

Gamon: Es gibt da unterschiedliche juristische Meinungen. Ich bin keine Juristin, aber dass die Neutralität nicht unbedingt zwangsweise im Widerspruch stehen muss zu einer europäischen Armee. Es kann auch quasi Österreich ein anderes Mandat haben als andere Länder, und wir sind ja auch nicht das einzige neutrale Land in der Europäischen Union. Ich glaube, es wäre schon möglich, dass man das auch machen kann in Einklang mit der Neutralität. Die Frage ist nur, ob das eine ehrliche Herangehensweise ist. Weil durch den Beitritt zur Europäischen Union und die Beistandspflicht, die wir auch haben, kann man sagen, dass die Neutralität eh in der Art und Weise nicht mehr so viel wert ist, wie sie es vielleicht früher einmal war. Aber ich glaube, es ist wichtig zu sagen: Eine europäische Armee für uns ist immer eine Verteidigungsarmee. Die hat nicht den Zweck, in der Welt Polizei zu spielen, so wie es die USA machen. Wir sehen das zur Verteidigung der europäischen Demokratie und der europäischen Freiheiten.

4. Noah Hechenberger: Sind Sie der Meinung, dass Atomkraft angesichts des drohenden Klimawandels eine gute Alternative zu Kohle- und Erdölenergie ist?

Gamon: Ich halte das für keine gute Alternative. Ich glaube, wir müssen ganz stark in die Forschung in der Europäischen Union investieren, dass erneuerbare Energie unbedingt auch ohne Atomkraft möglich ist. Da müssen wir aber viel mehr Geld in die Hand nehmen und vor allem aufhören, in dem Fall nicht nachhaltige Energiequellen – Kohle zum Beispiel – zu subventionieren. Das muss endlich ein Ende haben in der Europäischen Union, damit wir die Energiewende auch schaffen. Und da ist Wissenschaft und Forschung der beste Weg, damit wir das lösen können.

5. DI Andreas Reckendorfer: Das Bestreben von NEOS nach einer gut gebildeten Bürger-Gesellschaft steht teilweise diametral zu den Vorgängen innerhalb der EU. So wurde z. B. CETA fast komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Was unternehmen Sie, um die Entscheidungsgewalt wieder näher an den Souverän, das Volk, zu bringen?

Gamon: Wir sehen es als wichtig an, dass die Europäische Union anders funktioniert. Nämlich, dass die europäische Politik nicht in erster Linie nur den nationalen Regierungschefs verpflichtet ist, sondern direkt den Bürgerinnen und Bürgern. Und das kann man machen, indem man zum Beispiel eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten, der Kommissionspräsidentin ermöglicht und auch europäische Volksbefragungen und europäische Volksabstimmungen. Das würde, glaube ich, auch dieses Gefühl verändern, das man jetzt manchmal auch berechtigterweise hat, dass die Europäische Union manchmal zu weit entfernt ist, weil sie eben näher an den Regierungschefs ist als an ihren BürgerInnen. Und das sollten wir ändern, damit die Europäische Union besser funktionieren kann.

6. Anonym: Wie kann man die negativen Seiten des Wirtschaftsliberalismus der EU reduzieren?

Gamon: Die Europäische Union steht in der Wirtschaftspolitik für eine soziale Marktwirtschaft, und ich halte das für einen guten Weg. Weil, wenn man sich anschaut, wie das im Rest der Welt funktionieren kann – einerseits so wie in den USA, das halte ich für keinen guten Weg. Aber auch der totalitäre Überwachungskapitalismus, wie er in China stattfindet – auch auf gar keinen Fall! Wir wählen einen guten Weg in Europa mit einer starken sozialen Komponente und einer innovativen Marktwirtschaft, die für ihre Bürgerinnen und Bürger da ist. Und das soll man stärken, damit man das auch für die Zukunft halten kann, auch wenn Europa stärker unter Druck steht.

7. Helge Fahrnberger: Sie werben für eine europaweite CO2-Steuer, jedoch hat die liberale Fraktion im EU-Parlament bei fast allen Abstimmungen zum Klimaschutz gegen Klimaschutzinteressen gestimmt. Wieso sollen wir Ihnen glauben, dass Sie hier anders agieren werden?

Gamon: Weil es meine persönliche Überzeugung ist, und ich glaube, ich habe in diesem Wahlkampf bewiesen, dass ich für meine Überzeugungen eintrete, auch wenn es manchmal schwierig ist. Und für mich ist das Thema Klimaschutz ganz wichtig, weil ich auch eine Vertreterin einer Generation bin, die da eine ganz enorme Dringlichkeit bei diesem Thema verspürt. Wir haben da keine Zeit mehr zu verlieren. Das ist auch ganz wichtig für die nächsten Generationen, die auch nach meiner kommen. Und ich bin auch dafür, hier evidenzbasierte Lösungen an den Tag zu legen, und die CO2-Steuer – ein durchgerechnetes Konzept, wie es NEOS vorgelegt hat – wird der wichtigste Schritt sein hin zur Klimawende.

8. Max Quest: Halten Sie eine Fiskalunion, also eine gemeinsame Finanzpolitik, in der EU für ein realistisches und anstrebenswertes Ziel?

Gamon: Um dauerhaft die Stabilität unserer gemeinsamen Währung garantieren zu können, aber auch um politisch gemeinsam besser vorgehen zu können, ist das schon auch etwas, was ich für sinnvoll erachte – vor allem in den Vereinigten Staaten von Europa. Was wir aber für einen konkreten Vorschlag auch hatten, wenn es darum geht, „wie können wir in dem Fall den Euro auch auf lange Frist stärken“, ist, dass man in Europa einen europäischen Währungsfonds einführt, der auch dazu da ist, zum Beispiel die Budgetregeln einzuhalten und das zu überwachen und langfristig Stabilität im Euro-Raum zu garantieren.

9. Gerhard Lehner: Wie wollen Sie die Situation von Flüchtlingen auf Europaebene verbessern?

Gamon: Wir glauben, dass es beim Thema Asyl eine menschliche Antwort braucht, aber auch eine, die funktioniert. Das bedeutet ein europäisches Asylwesen mit einheitlichen Verfahren, die einheitlich abgewickelt werden und wo es klare Regeln gibt. Das ist ganz wichtig, weil das ist ein Thema das offensichtlich nicht nationalstaatlich bewältigbar ist. Da muss die Europäische Union gemeinsam vorgehen. Das ist etwas, was allen Beteiligten dabei helfen würde, mit dieser Herausforderung umzugehen, und wir brauchen das ganz dringend, weil das Thema Migration, das Thema Flucht, das wird die Europäische Union noch auf sehr lange Zeit beschäftigen.

10. Josefa Ronberger: Liebe NEOS, liebe Claudia Gamon, denkt ihr nicht, ihr nehmt den anderen Parteien Stimmen weg, damit dann nur Kleinparteien da sind und wieder die ÖVP mit der FPÖ zusammengeht?

Gamon: Interessante Frage. Was wäre denn die Alternative? Wir NEOS werben für die Vereinigten Staaten von Europa, und wer die haben will, der muss NEOS wählen. Wir sind die Einzigen, die das ganz vorne an … in ihrem Programm stellen, weil wir glauben, ganz viele inhaltliche Dinge, die wir auch mit anderen Parteien gemeinsam haben, das sind super Vorschläge. Aber solange die Europäische Union nicht ganz anders funktioniert, werden wir dort nicht hinkommen. Und deshalb ist der allerwichtigste Schritt die Reform der Europäischen Union hin zu Vereinigten Staaten von Europa.

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