Bundeskanzler Sebastian Kurz
Reuters/Lisi Niesner
„Bevormundung“ durch Brüssel

Kurz’ EU-Aussagen lösen Debatte aus

Mit seinen jüngsten Aussagen zur EU hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) eine heftige Debatte ausgelöst. Kurz kritisierte am Sonntag die „Bevormundung“ durch Brüssel und den „Regelungswahnsinn“ der EU. Die Opposition übte scharfe Kritik an Kurz, Fachleute äußerten grundsätzliche Einwände.

„Statt ständig mehr Geld zu verlangen, sollte die EU aufhören, den Menschen immer mehr vorzuschreiben, wie sie zu leben haben“, sagte der ÖVP-Obmann der APA. Gegenüber der ZIB sagte Kurz: „Wir wollen eine Europäische Union, die Fokus hat auf die großen Fragen, aber in den kleinen Fragen die Mitgliedsstaaten und Regionen alleine entscheiden lässt.“

Kurz verlangt die Streichung von 1.000 nicht näher definierten EU-Verordnungen beziehungsweise die Rückgabe der Kompetenzen dieser Verordnungen an die Mitgliedsstaaten. „Die Menschen verlangen von der EU Antworten in großen Fragen wie der Sicherheit, Außengrenzschutz oder Klimawandel“, so Kurz. „Aber kein Mensch braucht EU-Vorgaben, etwa für die Zubereitung von Schnitzel und Pommes.“

Kurz: EU als „enges Bürokratiekorsett“

Vergangene Woche hatte Kurz mit der Forderung nach einer Neuverhandlung des EU-Vertrags von Lissabon aufhorchen lassen. Seit Beschluss des EU-Vertrags von Lissabon 2009 habe sich in Europa viel verändert, so der Bundeskanzler, es brauche ein „Update“ des Vertrags.

Kurz fordert weniger EU-Verordnungen

Zwei Wochen vor der EU-Wahl kommt von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ein neuer Vorschlag zur EU-Reform. Neben der Reform des EU-Vertrages wünscht sich Kurz weniger Bürokratie.

Am Sonntag sagte Kurz, das Freiheitsprojekt Europa werde immer mehr zum „engen Bürokratiekorsett“ für die Bürger. Bisher sei noch keine Initiative gestartet worden, den „Regelungswahnsinn“ zu stoppen und kritisch zu hinterfragen: „Wenn wir die Menschen wieder mehr für Europa begeistern wollen, müssen wir die Bevormundung aus Brüssel stoppen.“

Opposition sieht „eigenes Versagen“ von Kurz

Kritik kam von den Oppositionsparteien SPÖ und NEOS. Wenn Kurz „über EU-Bevormundung klagt, ist das sein eigenes Versagen“, kritisierte SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried und warf ihm Tatenlosigkeit vor: Kurz, seit insgesamt sechs Jahren Regierungsmitglied, trage als Kanzler „alle EU-Entscheidungen im Kreis der EU-Staatschefs mit“. Kurz’ Aussagen erinnerten ihn an den Stil des Koalitionspartners FPÖ: „Die ÖVP und die Freiheitlichen sind nicht mehr unterscheidbar“, so Leichtfried in einer Aussendung.

Kurz übernehme im Kampf um Wählerstimmen nun endgültig die europafeindliche Linie der FPÖ, sagte NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger. Die beiden von Kurz verwendeten Begriffe „Bevormundung durch Brüssel“ und „Regelungswahnsinn“ seien „Schlüsselwörter im Lager der Nationalisten und Rechtspopulisten“. Verwundert zeigte sie sich in ihrer Aussendung darüber, dass Kurz die „Bürokraten in Brüssel“ angreift, zumal die Europäische Volkspartei (EVP/EPP), der die ÖVP angehört, seit Jahrzehnten „die Strukturen“ dominiere und die ÖVP bisher stets den österreichischen EU-Kommissar gestellt habe.

Der Spitzenkandidat der Grünen, Werner Kogler, äußerte sich skeptisch zu Kurz’ Vorschlägen über eine Änderung der EU-Verträge: Am ehesten könne er sich eine Verkleinerung der Kommission vorstellen. „Eine europäische Regierung muss ja nicht aus allen Mitgliedsstaaten bestehen. Es geht nicht darum, die Interessen der Staaten zu vertreten“, sagte Kogler am Sonntag in der ORF-„Pressestunde“. Die EU als überbürokratisch darzustellen sei allerdings antieuropäisch und „eines Kanzlers unwürdig“. „Ich habe eher das Gefühl, dass beim türkisen Kanzler der blanke Populismus im Vordergrund steht“, kritisierte Kogler.

Zustimmung von FPÖ

Bestätigt durch Kurz’ Aussagen fühlt sich dagegen FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky: „Das, was jetzt gesagt wird, entspricht dem, was ich seit Jahren sage. Das freut mich“, so Vilimsky am Sonntag in der ORF-„Pressestunde“. Die FPÖ habe seit Jahren „Fehlentwicklungen“ innerhalb der EU kritisiert und sei dafür „dämonisiert“ worden. Dabei habe die FPÖ „nie einen negativen Zugang zu Europa“ gehabt, sondern eine „sehr kritische Haltung“ zu Entwicklungen der Union: „Das muss erlaubt sein“, so Vilimsky.

Zudem erteilte Vilimsky in der „Pressestunde“ der Forderung, das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat der Mitgliedsstaaten abzuschaffen, eine weitere Absage: „Eine Union, die von (Deutschlands Kanzlerin Angela, Anm.) Merkel und (Frankreichs Präsident Emmanuel, Anm.) Macron dominiert wird, da kann ich nicht auf ein österreichisches Veto verzichten. Das ist undenkbar. Weil ich will, dass die rot-weiß-roten Interessen weiterhin hier in Österreich definiert werden.“

Europarechtler: Zahl zu hoch gegriffen

Der Europarechtler Walter Obwexer von der Universität Innsbruck bezeichnete die Zahl von 1.000 EU-Verordnungen, die Kurz streichen will, unterdessen als zu hoch gegriffen. Es sei gut und richtig, EU-Regelungen auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen, sagte Obwexer gegenüber Ö1. Die EU gehe aber schon jetzt nach dem Prinzip der Subsidiarität vor und regle nur das, was die Mitgliedsstaaten nicht besser regeln könnten – Audio dazu in oe1.ORF.at.

Daher werde es schwierig, 1.000 Rechtsakte zu finden, bei denen die Mitgliedsstaaten in der Lage sind, das angestrebte Ziel besser zu erreichen, so Obwexer. Es werde einige, ja, Dutzende Rechtsakte geben, wo das zutreffe, „aber die Zahl 1.000 scheint mir doch recht hoch“. Eine Streichung der von Kurz als Beispiel genannten EU-Verordnung zu „Schnitzel und Pommes“ sieht der Experte skeptisch. Jeder Mitgliedsstaat würde dann regeln, auf welchem Schutzniveau Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden, erklärte Obwexer. Das Abschaffen dieser EU-Verordnung „wäre für den Binnenmarkt zumindest nicht förderlich“.

Daniel Gros vom Center for European Policy Studies (CEPS) erklärte gegenüber der ZIB, die Zahl der EU-Verordnungen sei in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. „In Wirklichkeit ist die Brüsseler Bürokratie sehr schlank. Für 400 Millionen Einwohner hat man weniger Bürokraten als eine Mittelstadt in vielen Mitgliedsländern.“ Kurz’ Forderungen zwei Wochen vor der Europawahl seien vor allem eines: typisch für Wahlkampfzeiten.

Kurz: „Weber schafft das“

Sonntagnachmittag meldete sich Kurz in der Debatte erneut zu Wort. Er habe volles Vertrauen in den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber, „der angekündigt hat, als neuer EU-Kommissionspräsident 1.000 Verordnungen und Richtlinien abzuschaffen“, teilte er durch einen Sprecher mit.

„Ich bekräftige, dass Manfred Weber dies auch schaffen wird. Es braucht vor allem den politischen Willen dazu, und dieser ist bei ihm vorhanden. Dabei handelt es sich um gelebte Subsidiarität und eine Stärkung der EU, wenn Bürokratie abgebaut wird“, so Kurz. Auch in Österreich habe es sich die ÖVP-FPÖ-Bundesregierung zum Ziel gesetzt, Bürokratie abzubauen. Sie habe dazu bereits einige Initiativen gesetzt, so Kurz. „Wie im Bereich Gold Plating. Diesen Weg werden wir in Österreich wie in der Europäischen Union konsequent fortsetzen.“