Volkan Bozkir und Johannes Hahn
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Kommissar im Gespräch

Ein Blick in den Berlaymont

Das Berlaymont-Gebäude ist das gewaltige Herz des Brüsseler EU-Viertels. 14 Stockwerke, 88 Sitzungsräume und 240.000 Quadratmeter Fläche beherbergen die EU-Kommission. Bald wird dort neues Personal einziehen: Mit der EU-Wahl endet im Herbst auch die aktuelle Amtszeit, und die Mitgliedsstaaten werden zahlreiche neue Kommissare und Kommissarinnen nominieren. Welche Eigenschaften diese mitbringen müssen und was die Arbeit dort prägt, hat ORF.at Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn gefragt.

Seit zehn Jahren ist der ÖVP-Politiker Österreichs Vertreter in der EU-Kommission. Ab 2009 war er Kommissar für Regionalpolitik, seit 2014 ist er für die EU-Erweiterung und Nachbarschaftspolitik zuständig. Damit kümmert sich Hahn zum einen um Beitrittskandidaten und -verhandlungen, zum anderen soll er für gute Beziehungen zwischen der EU und ihren vielen Nachbarstaaten sorgen.

Das führt den 61-Jährigen vom Westbalkan bis in die Schweiz, von Libyen in die Ukraine – und zu einer enormen Anzahl an zurückgelegten Kilometern. „Ich bin für 24 verschiedene Länder zuständig und daraus ergibt sich ein gewisses Reisepensum“, sagt Hahn. In der Praxis führt das dazu, dass er im Vorjahr an mehr als 200 Tagen mit dem Flugzeug unterwegs war. Er habe zwar nichts gegen das Fliegen, aber auch „nicht die Absicht, diesen Rekord zu toppen“.

Hahn: „Terminplan fünf Jahre ziemlich dicht“

Hahn über seinen Terminkalender, Zeitdruck zum Ende der Legislaturperiode und der Notwendigkeit des Vielfliegens.

Doch Hahns Basis befindet sich nach wie vor in Brüssel, hoch oben im Berlaymont, wo der Apparat der Kommission arbeitet. Dort kümmern sich 27 Kommissare und Kommissarinnen sowie ihre Teams um diverse Fachgebiete, angeführt von Präsident Jean-Claude Juncker. Die Kommission ist für das Tagesgeschäft der EU zuständig – sie ist das politisch unabhängige, gesetzgeberische Organ und in den EU-Verträgen explizit dazu verpflichtet, im Sinne der Union zu arbeiten.

Nur sie kann neue Gesetzesvorschläge einbringen, wobei diese teils von den Staaten sowie dem Parlament kommen. Zudem setzt die Kommission Beschlüsse des EU-Parlaments und des Rates um. In Junckers Amtszeit verstand sie sich als eine „politische Kommission“ mit eigener Gestaltungshoheit, was die Lage im Machtdreieck Rat-Parlament-Kommission nicht immer vereinfacht hat. Eine erhebliche (Haus-)Macht im Berlaymont hat auch der rund 30.000 Personen starke Beamtenapparat, an seiner Spitze der Juncker-Vertraute Martin Selmayr. Außerdem gilt die EU-Kommission als „Hüterin der Verträge“.

EU-Kommissionsgebäude
ORF.at/Peter Prantner
Das Kommissionsgebäude – noch mit „Team Juncker“-Banner

„Langer Atem“ erforderlich

In diesem Gefüge fallen Hahn und seinem Team außenpolitische Problemstellungen zu, die oftmals viel Zeit brauchen. Beispiele: Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei laufen bereits seit fast 15 Jahren. Auch der neue EU-Schweiz-Deal befand sich fünf Jahre in der Schmiede, und ist zwar fertig, aber immer noch nicht unterzeichnet. Verschiebungen politischer Machtverhältnisse – etwa Richtung Russland oder hin zur EU – äußern sich zwar oftmals mit einem Knall, sie passieren letztlich aber nicht über Nacht. Und auch die bloße Annäherung möglicher Mitgliedsstaaten an die EU ist stets ein Langstreckenlauf, wie sich aktuell auf dem Westbalkan zeigt.

„Gerade im außenpolitischen Geschäft braucht man einen langen Atem, weil sich die Dinge oftmals nur sehr langsam fortbewegen. Man muss wissen: Was ist die finale Position“, so Hahn. Schwierig macht das fraglos die erhebliche Personalfluktuation: „Unter den Ländern innerhalb der Union gibt es nur sieben Länder, die in meiner Zeit den gleichen Außenminister haben. Ich glaube, annähernd die restlichen 21 Länder haben insgesamt rund 60 Außenminister oder Außenministerinnen verbraucht. Ja, es gibt einen Wechsel. Deswegen ist es gut, wenn es auf europäischer Ebene Kontinuität gibt.“

Hahn: „Sehr viele Einflüsse im außenpolitischen Bereich“

Hahn über Außenministerrochaden und das schwierige Thema Erweiterung.

Neue Kommissare – auch aus EU-skeptischen Regierungen

Doch auch die Beständigkeit in der EU hat ihre Grenzen. Alle fünf Jahre werden – Hand in Hand mit der Europawahl – auch im Berlaymont die Karten neu gemischt. Dann müssen sich die EU-Staatschefs und das EU-Parlament zum einen auf einen neuen Kommissionspräsidenten einigen, der anschließend die Leitlinien für die Ausrichtung der Kommission sowie ihre innere Struktur vorgibt.

Zudem anderen werden die Staaten dann vielfach neue Kommissare entsenden. Und die veränderten politischen Machtstrukturen in den EU-Mitgliedsstaaten – etwa der Aufstieg EU-skeptischer Parteien in die Regierungsebenen – werden sich auch in der Kommission abzeichnen. Wer für Österreich nach Brüssel geschickt wird, steht noch nicht fest. Angesichts der aktuellen innenpolitischen Lage gibt es auch bei dieser Frage wohl viel offenen Spielraum. Auch hierbei wird es eine Rolle spielen, wer Kommissionspräsident wird.

„Wäre Fehler, wenn man sich auf Berater verlässt“

Final stehen muss die neue Besetzung der Kommission jedenfalls im Herbst. Gefragt nach den Eigenschaften, die künftige Amtsinhaber und Amtsinhaberinnen dann mitbringen müssen, sagt Hahn: „Du musst immer neugierig sein, weil du musst neugierig sein, um dich auf neue Herausforderungen einzustellen. Du musst extrem belastbar sein – und in der Tat, man braucht einen langen Atem.“ Gleichzeitig gelte es, „mit großer Leidenschaft“ bei der Sache zu sein. „Wenn man das miteinander verbindet, bringt man auch Ergebnisse zusammen“.

Allerdings folgt auch so etwas wie eine Warnung: „Vor allen Dingen braucht man einen eigenen Gestaltungswillen. Es wäre ein Fehler, dass man sich auf Berater verlässt. Man muss schon wissen, was man will, und dann ist es gut, wenn man verschiedene Meinungen hört. Aber am Ende des Tages muss man selbst entscheiden.“

Hahn: „Bodenhaftung nicht verlieren“

Hahn über die Eigenschaften, die man als Kommissar oder Kommissarin braucht.

Managerqualität sei ohnehin wichtig: „Es ist gut, wenn die betreffende Person vielfältige Erfahrungen darin hat, wie man ein Ministerium, ein Unternehmen, eine große Gruppe von Menschen führt.“ Und bei alledem sollte man auch „die Bodenhaftung nicht verlieren“, so Hahn, der deswegen den Kontakt zu der Bevölkerung suche. „Ich freue mich, wenn ich in Österreich von Menschen angesprochen werde, die mir ungefiltert ihre Meinung sagen.“

Erweiterung: „Klar, dass aktuell kein Zuspruch“

Und zu Hahns Kernthema – der EU-Erweiterung – haben angesichts der wirtschaftlichen und politischen Klüfte zwischen den EU-Staaten und den Beitrittskandidaten viele Leute eine Meinung. Das trifft fraglos auf die Türkei zu, aber auch auf den Westbalkan, wo sich die aussichtsreichsten Kandidaten für einen EU-Beitritt befinden. Mit Serbien und Montenegro gibt es bereits Beitrittsverhandlungen, ebenso mit der Türkei – diese liegen aber de facto auf Eis. Zusätzlich arbeitet Hahns Bereich daran, die Westbalkan-Staaten Albanien, den Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien näher an den EU-Beitritt zu bringen.

„Es ist klar, dass das Thema Erweiterung in den meisten Ländern aktuell keinen großen Zuspruch findet“, so Hahn. Er hält es trotzdem für notwendig, die Verhandlungen voranzutreiben: „Es geht auch um die eigene Sicherheit in Österreich, um die eigene wirtschaftliche Entwicklung. In Serbien sind 400 österreichische Firmen tätig, in Bosnien-Herzegowina 200. Die schaffen alle und sichern alle Arbeitsplätze in Österreich. Österreich und Europa sind das Internationalste, das es gibt. Dem muss man auch Rechnung tragen.“

Allerdings geht es auch um weltpolitische Fragen. Nicht nur Russland, auch China, Saudi-Arabien und die Türkei strecken sich zunehmend Richtung Balkan. Und an einem Eskalieren der zwischenstaatlichen Konflikte kann die EU kein Interesse haben – es handelt sich immerhin um die Nachbarschaft. Vor einem Westbalkan-Gipfel mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat Ende April Hahn also noch einmal die Werbetrommel für einen raschen Beitritt gerührt. Doch Merkel und Macron bremsten und betonten, es gehe nicht um einen EU-Beitritt.

Von Wind und Wetter

Viele Staats- und Regierungschefs geben sich in der Frage der EU-Erweiterung auch aus innenpolitischen Gründen zurückhaltend. Ihnen reichen wohl die anderen inneren Probleme der EU – angefangen vom Brexit bis hin zum Schlingerkurs in Sachen Weltpolitik. Eine gewisse Turbulenz attestiert auch Hahn – aber mit Zuversicht: „Als Segler würde ich sagen, wir bewegen uns mindestens bei Windstärke sechs, sieben. Und immer wieder gibt es Böen, die Orkanstärke erreichen können. Aber wir sind an diese Wetterbedingungen gewöhnt.“ Es habe immer wieder eine Abfolge an Krisen gegeben, die aber immer gut bewältigt worden seien – siehe etwa Griechenland.

Jetzt müsse die EU die Fähigkeit entwickeln, im globalen Maßstab „nicht nur zu reagieren, sondern auch zu agieren“, so Hahn mit Blick auf die kommende Legislaturperiode. Deswegen unterstütze er auch Bundeskanzler Sebastian Kurz’ (ÖVP) Vorstoß zu einer Änderung der EU-Verträge. Außerdem spricht er sich gegen das Einstimmigkeitsprinzip in gewissen Bereichen aus.

Hahn: „Immer wieder Böen, die Orkanstärke erreichen können“

Migrationskrise, Griechenland, Weltpolitik: Hahn über Krisen und Herausforderungen in der EU.

„Das wäre das große Thema für die Zukunft: Wie stellen wir uns auf, dass wir global gesehen eine große Rolle spielen, dass wir nicht nur Zahler, sondern auch Player sind.“ Nur ein starkes geeintes Europa könnte die Einzelnen schützen, sagt Hahn – und greift auf ein Zitat von Paul-Henri Spaak, einem der europäischen Gründungsväter, zurück: „‚Alle europäischen Staaten sind klein, nur manche wissen es noch nicht.‘ Und das hat heute mehr Gültigkeit, als vor 60 Jahren.“