Sängerin Netta Barzilai bei Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Frau Sara
Haim Tzach, GPO
Netanjahu und die Medien

Song Contest als Politspielball

Wenn dieser Tage der Song Contest in Tel Aviv über die Bühne geht und Glanz, Glamour und Trash versprüht, dann ist vielleicht für ein paar Stunden ein knallharter Konflikt vergessen: Der Bewerb und vor allem der erst vor zwei Jahren neu gegründete Sender Kan sind ein Spielball der israelischen Politik – mit weiterhin ungewissem Ausgang für die Rundfunkanstalt.

Der Konflikt reicht lange zurück: Im politischen Spiel mit dem israelischen Rundfunk waren schon 2017 Millionen Fernsehzuseher in einem der entscheidenden Momente dabei. Damals verkündete der israelische Jurysprecher Ofer Nachschon nach der Punktevergabe die Einstellung des Senders. Der Song Contest war ausgerechnet die letzte Sendung des Senders Israel Broadcasting Authority (IBA), gerade eine Handvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hielt noch die Stellung.

Begonnen hat der Anfang vom Ende schon ein paar Jahre vorher – inklusive einiger dramatischer Wendungen. Im Rahmen der als obsessiv beschriebenen Beschäftigung von Regierungschef Benjamin Netanjahu mit den Medien hatte die israelische Regierung 2014 beschlossen, die israelische Rundfunkbehörde zu reformieren. Reformieren hieß in diesem Fall die Auflösung der IBA und die Schaffung eines neuen Senders. Die Rundfunkbehörde sollte unter dem Namen IPBC (Israel Broadcasting Corporation) neu aus der Taufe gehoben werden – mit Kan als neuen Markennamen.

Plötzlich gegen Neugründung

2016 vollzog Netanjahu einen bemerkenswerten Schwenk. Er wollte IBA – mittlerweile seit 2015 staats- und nicht mehr gebührenfinanziert – bestehen lassen und wehrte sich gegen die Neugründung: Wieder sei der auch neue Sender von einer „linken Elite“ dominiert, so Medien über Netanjahus Beweggründe damals. Hintergrund war wohl, dass über Netanjahus Politik nicht nur freundlich berichtet wurde. Auch die Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Frau wurden wiederholt sehr breit behandelt.

Mitarbeiter der israelischen Rundfunkbehörde KAN in einem Büro
Reuters/Baz Ratner
Der israelische Rundfunk als Dauerzankapfel

Der Streit löste eine monatelange Krise in der Koalition aus. Der Premierminister lenkte schließlich doch ein und IBA wurde kurzfristig und fast überfallsartig geschlossen, mit eben dem Song Contest ein paar Tage später als letzter Sendung. Netanjahu wurde von der Opposition vorgeworfen, kritische Medienstimmen zum Schweigen bringen zu wollen. Allerdings war IBA mit einer TV-Reichweite von gerade drei Prozent schon fast in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, auch wenn die Radiostationen weit bessere Werte zu bieten hatten.

Song-Contest-Austragung durchkreuzte Netanjahus Pläne

Auch im nächsten Kapitel des Streits spielte der Song Contest die tragende Rolle. Mit dem Sieg von Netta in Portugal fand sich Israel plötzlich in der Veranstalterrolle wieder – mit IPBC/Kan als ausführender Anstalt. Nur war Kan zu diesem Zeitpunkt lediglich assoziiertes Mitglied der European Broadcasting Union (EBU), also des eigentlichen Veranstalters des Song Contest.

Israel und die EBU

Die EBU hatte ursprünglich vor allem technische Aufgaben: die Frequenzvergabe für Fernsehen und Radio. Darum wurde auch ein viel größerer Raum – von Nordafrika bis weit Richtung Asien – abgedeckt, der mit geografischen und politischen Vorstellungen von Europa nicht übereinstimmt. So hat der Song Contest auch mit der EU, ihren Werten und ihrer Politik, eigentlich gar nichts zu tun, was aber immer wieder vermischt wird.

Für die Vollmitgliedschaft muss ein Sender auch eine integrierte und eigenständige Nachrichtenredaktion haben – genau das Gegenteil war aber bei Kan geplant. Nach den Vorstellungen Netanjahus sollte der israelische Rundfunk in zwei Einheiten aufgeteilt werden: Kultur und Unterhaltung sowie eine externe Nachrichtenredaktion. Auch hier musste Netanjahu einlenken. Die eigene Nachrichtenredaktion blieb, der Sender wurde schließlich im Dezember wieder voll in die EBU aufgenommen.

Schwierige Finanzierung

Gestritten wurde zudem über die Finanzierung des Events: Im August 2018 musste IPBC/Kan für die Durchführung des Eurovision Song Contest Bankgarantien in Höhe von 50 Millionen Schekel (rund zwölf Mio. Euro) stellen. Das Unternehmen war gezwungen, ohne Beteiligung der israelischen Regierung einen Bankkredit aufzunehmen, um der EBU die erforderlichen Garantien zu geben. Die israelische Regierung hatte sich geweigert, die Finanzierung bereitzustellen. Schließlich wurde beschlossen, dass der Staat nur für den Fall, dass Krieg oder höhere Gewalt die Absage des Song Contest verursachte, das Unternehmen unterstützen würde.

Drastische Budgetkürzungen stehen im Raum

Der Bewerb wurde damit gesichert – der Sender nicht: Netanjahu, der seine politischen Botschaften längst vor allem über einen Facebook-Bewegtbildkanal verbreitet, befindet sich derzeit in Koalitionsverhandlungen mit rechten und ultraorthodoxen Parteien.

Zuletzt berichteten israelische Medien, dass das Thema des israelischen Rundfunkhaushalts einer der Verhandlungspunkte der Koalition ist, auf die Netanjahu gegenüber seinen potenziellen Koalitionspartnern besteht. Es wird berichtet, dass es sich um eine Kürzung von zwei Dritteln des Budgets des Senders in Höhe von 500 Millionen (120 Mio. Euro) von insgesamt 750 Millionen Schekel (180 Mio. €) handelt. Einigt man sich darauf, würde diese Kürzung tatsächlich eine Art Todesstoß für IPBC/Kan bedeuten.

Vielleicht auch deshalb versuchte Kan über den Song Contest einen – zumindest kurzfristigen – Befreiungsschlag: Wer solch ein Spektakel, wahrscheinlich auch noch mit Gaststar Madonna, abwickelt, steht, zumindest eine Zeitlang im Blick der Weltöffentlichkeit. Und es wird – zumindest theoretisch – eher wahrgenommen, wenn der Sender kurz darauf im Ränkespiel der Politik ausgehungert würde.

„Nächstes Jahr in Jerusalem“

Doch nicht nur die Rundfunkanstalt, sondern auch der Song Contest selbst ist schon an jenem Abend in Lissabon vor rund einem Jahr zum israelischen Politikum geworden. Als Netta gewann, verkündete sie auf der Bühne im Siegestaumel: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“ Netanjahu ergriff die Gelegenheit und leitete sofort einen Telefonanruf ein, der live an die Zuschauer in Israel gesendet wurde. Im selben Gespräch lobte „Bibi“, so Netanjahus Spitzname, Netta und sagte, dass sie „Israels beste Botschafterin“ sei. Er wiederholte: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“

Empfang nach Song-Contest-Sieg

Netta und Netanjahu, kurz nach dem Sieg in Lissabon, bei einem gemeinsamen Tänzchen

Und das ist nicht nur eine Phrase, sondern freilich der traditionelle Wunsch am Schluss des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags, ein gefügeltes Wort, das während der Geschichte des jüdischen Volkes von Diaspora-Juden als Sehnsucht nach einer Rückkehr in das „Gelobte Land“ und nach Jerusalem als Hauptstadt verwendet wird. Und gleichzeitig wurde es auch zum politischen Kampfbegriff.

Jerusalem vs. Tel Aviv

Israel fordert die Welt seit Langem dazu auf, Jerusalem als ihre Hauptstadt anzuerkennen. 2017 kündigte US-Präsident Donald Trump an, diesen Aufruf zu folgen. Heuer im März wurde die US-Botschaft in der Stadt eröffnet. Netanjahu kämpft darum, dass andere Länder diesem Beispiel folgen, doch die meisten Nationen bestehen darauf, dass der endgültige Status Jerusalems durch Friedensverhandlungen mit den Palästinensern entschieden wird.

Sängerin Netta Barzilai und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
Haim Tzach, GPO
Noch einmal Netta und Netanjahu

Der Song Contest in Jerusalem, so die Strategie von Netanjahus Likud-Partei, sollte die Forderung Israels untermauern, und das obwohl Tel Aviv als Partystadt und Hotspot der homosexuellen Community prädestiniert für die Austragung ist. Das Match zwischen dem liberalen Tel Aviv und Jerusalem, dem religiösen und konservativen Zentrum für jüdische, christliche und muslimische Gläubige, wurde insbesondere im Wahlkampf für die vorgezogene Parlamentswahl im April für Schlagzeilen genutzt.

EBU setzte sich durch

Die Kulturministerin der Likud-Partei, Miri Regev, bestand darauf, dass die Veranstaltung in Jerusalem stattfinden sollte, und drohte sogar, die Finanzierungszusage an den Austragungsort zu knüpfen.

Die EBU hatte schließlich mit ihren eigenen Regeln für die Abhaltung des Songs Contest die wohl besseren Argumente: Auch wenn die Halle in Tel Aviv eigentlich auch nicht den Anforderungen entspricht, ist sie zumindest größer als jede Location in Jerusalem, und es sollte vermieden werden, dass politische Streitigkeiten sich zu sehr in den Vordergrund drängen. Netanjahu hat die Einladung des Senders, beim Finale am Samstag dabei zu sein, übrigens ausgeschlagen. Offiziell aus Sicherheitsgründen, wie es heißt.

Unpolitisch geht nicht

Der Streit über den Song Contest entpuppte sich also als fast genauso kompliziert wie die politische Realität in Israel in Bezug auf die Beziehungen zwischen Religion und Staat, die Außenbeziehungen und auf das Verhältnis zwischen Liberalismus und dem Konservatismus im Land. Das verordnete Unpolitische am Song Contest wurde freilich immer von der Realität eingeholt, aber nur selten zeigt es sich deutlicher als heuer.