Mitglieder des EU-Parlaments
APA/AFP/Frederick Florin
EU-Recht

„Solidarität ist nicht freiwillig“

Das Prinzip, dass Mitgliedsstaaten einander helfen, stand ganz am Anfang der Europäischen Einigung. Die vielbeschworene Solidarität wurde in der Euro- und der Flüchtlingskrise jedoch schwer auf die Probe gestellt. Solidarität ist zwar nicht freiwillig, realpolitisch erzwungen werden kann sie aber auch kaum. Dazu kommen Einbußen bei der Rechtsstaatlichkeit. Eine gefährliche Entwicklung, warnt der Europarechtler Andreas Müller im Interview mit ORF.at.

Die Solidarität ist in den EU-Verträgen mehrfach verankert – sowohl in der Charta der Grundrechte als auch in bestimmten, konkreten Kontexten. Sie ist laut dem Innsbrucker Europarechtler Andreas Müller nicht nur ein Wunschgedanke, sondern ein – beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einklagbarer – Rechtsbegriff. Konkret Form nehme die Solidarität vor allem in der Kohäsionspolitik an, also bei den Finanzhilfen für wirtschaftlich schwächere Regionen. Auch wenn es in diesem Kontext nicht so genannt werde.

Dann seien der EU aber weitere Aufgaben zugewachsen. So seien, begleitend zum Binnenmarkt, der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen worden, wozu etwa das Schengen-Abkommen und die Asylpolitik gehören. Bei Letzterer sei ausdrücklich in den Verträgen festgehalten worden, dass hier der Grundsatz der Solidarität gelte.

Die Krisen in den Knochen

„Was das heißt, weiß niemand so genau“, hält Müller im ORF.at-Interview fest. Es sei aber jedenfalls eine Vorgabe des Unionsgesetzgebers, einen gewissen Lasten- und Verantwortungsausgleich zu schaffen. Mitten in der Euro-Krise kam dann auch das europäische Asylsystem ins Wanken. Die beiden Krisen hingen laut Müller nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich zusammen. Sie hätten sich gegenseitig verstärkt und würden „bis heute allen tief in den Knochen stecken“.

Mitglieder des EU-Parlaments
APA/AFP/Frederick Florin
EU-Abgeordnete fordern im Herbst 2015, als die Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt erreichte, Solidarität.

Auf Schengen folgt Dublin

Um einen Missbrauch der Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum zu verhindern – etwa durch die organisierte Kriminalität –, wurde unter anderem das Dublin-System geschaffen, das einen Staat für das Asylverfahren verantwortlich macht. Und zwar jenen, in dem eine Asylwerberin oder ein Asylwerber zuerst die EU betritt (die Dublin-Regelung). Italien und Griechenland wurden laut Müller aber mit der Flüchtlingsproblematik „jahrelang alleingelassen“ – die Flüchtlingskrise begann lange vor 2015, wurde aber etwa hierzulande stets als Problem der Mittelmeer-Länder dargestellt.

Dublin funktionierte also – vor allem aus Sicht der mitteleuropäischen Staaten, die selbst weitgehend unbehelligt blieben. Es sei freilich unsolidarisch gewesen, so Müller. Rom und Athen sei die Dublin-Regel als Bedingung für den Beitritt zu Schengen aufgezwungen worden. Es habe zwar zusätzliche Geldmittel für Italien und Griechenland gegeben, diese seien aber „in keinem Verhältnis zur den Herausforderungen“ gestanden.

Wirtschaftskrise als Solidaritätskrise

Mit der schweren Wirtschaftskrise kümmerte sich Griechenland aber nicht mehr ernsthaft um eine funktionierende Asylpolitik. EuGH und Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkannten schließlich, man dürfe nicht mehr nach Griechenland abschieben, weil das gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße. Österreich und Deutschland etwa konnten Asylwerber somit nicht mehr nach Griechenland zurückschicken. „Und genau seit damals rufen Berlin und Wien nach Solidarität“, so Müller.

Nach monatelangem politischem Streit ohne Einigung – während der großen Flüchtlingsbewegung von Griechenland via Ungarn und Österreich nach Deutschland 2015 – aktivierte der EU-Rat die Solidaritätsklausel: Per Mehrheitsbeschluss wurde die Relocation (also die Aufteilung von bereits auf EU-Boden befindlichen Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten) beschlossen. Ungarn und die Slowakei zogen dagegen vor den EuGH, unterlagen aber.

Solidarität ist nicht freiwillig

Die beiden Staaten verwiesen dabei darauf, dass Solidarität immer auf Freiwilligkeit beruhe. Der EuGH wies dieses und andere Argumente freilich zurück. Man könne sich eben nicht aussuchen, wann man solidarisch sein wolle, so Müller. Es gebe „harte Elemente“ der Solidarität. Und juristisch lasse sich argumentieren, dass die EU-Verträge mit der Solidaritätsklausel einstimmig beschlossen wurden und somit ein „Ausfluss früherer Freiwilligkeit“ seien.

Dass die Visegrad-Staaten wie etwa Ungarn anfingen, von einer „flexiblen Solidarität“ zu sprechen, sieht Müller ganz klar als Versuch, sich aus der Solidargemeinschaft zurückzuziehen. Das Vorgehen sollte mit „positiv besetzten Begriffen“ gerechtfertigt werden.

„Dann können wir die EU vergessen“

Ideengeschichtlich könne man natürlich lange darüber debattieren, in welchem Verhältnis Solidarität und Freiwilligkeit zueinander stehen, so der Innsbrucker Europarechtler. Es gebe aber nun einmal vertraglich vereinbarte Grundsätze. Das seien gültige Beschlüsse. Und die Wahrung der Rechtstreue durch die einzelnen Unionsmitglieder ist laut Müller zentral. Denn wenn jeder nach Lust und Laune in Bereichen, die ihm nicht gefallen, sage, das wende ich nicht an, „dann dauert es nicht lange und wir können die EU vergessen“.