Im Vorfeld gibt sich die 31-jährige Elektropopmusikerin Paenda gelassen: „Ich hoffe einfach, dass ich so viele Menschen wie möglich erreiche – und wenn sie nicht für mich abstimmen, sollen sie zumindest über das Thema nachdenken.“ Im von Paenda selbst geschriebenen, arrangierten und produzierten Song „Limits“ geht es um „Verletzlichkeit“, er soll aber genauso die Botschaft vermitteln, „an sich zu glauben, auf sich zu hören und seinen Weg selbst zu finden“.
Ähnlich wie der Song ist auch die Bühneninszenierung äußert minimalistisch. Im Schwarz der Bühne fokussiert sich alles auf die Sängerin, nur ein Wald als Leuchtstäben und eine Art Sternschnuppeneffekt an der Decke unterstützen visuell die Nummer. Dafür gab es in Tel Aviv ähnlich viel Lob wie für Paendas Stimmsicherheit auf der Bühne.
Finale oder nicht?
Mit Startnummer neun wird Paenda genau zur Halbzeit des Semifinales auftreten. Geht es nach den Buchmachern, ist ein Einzug ins Finale mit der ruhigen Ballade zwar im Rahmen des Möglichen, aber keineswegs eine sichere Bank. „Limits“ ist jedenfalls keine Song-Contest-förmige Nummer – und von denen gibt es jedes Jahr gerade eine Handvoll. Das kann sehr gut funktionieren oder auch in die Hose gehen. Wie sich „Limits“ in der Großraumdisco-Version anhört, hat der im Semifinale eins ausgeschiedene finnische Teilnehmer Darude mit seinem Remix der Nummer vorgemacht.
Niederländer als großer Favorit
Quasi seit Anbeginn der heurigen Saison als unerreichbarer Favorit gilt interessanterweise eine ähnlich ruhige Nummer, die genauso wenig auf Effekte setzt wie der österreichische Beitrag: der niederländische Song „Arcade“, gesungen und geschrieben von Duncan Laurence.
Der als Finalist der Castingshow „The Voice Holland“ bekannt gewordene Laurence besingt darin eine Bekannte, die die Liebe ihres Lebens verloren hat. „Und bis zu dem Tag, an dem sie starb, sehnte sie sich danach, dass er zurückkommt.“ Mit dieser Themenwahl ist der Niederländer im zweiten Semifinale perfekt gesetzt, wo Liebeskummer und Trennungsschmerz in allen möglichen Ausformungen und Stilrichtungen zu hören sein werden.
Siegeswille bei Russland und Schweden
Ebenfalls ganz hoch im Kurs steht der Russe Sergey Lazarev – vor allem weil er 2016 in Stockholm bereits den dritten Platz erreicht hat. Anders als der Powerpop-Song von damals ist „Scream“ aber eine dramatisch arrangierte Ballade mit – und das spricht eher gegen den Russen – gehöriger Textarmut im Refrain. Seine Spiegelkabinetteinlage auf der Bühne könnte das wieder wettmachen.
Immer zum Favoritenkreis wird Schweden gezählt, heuer vertreten durch John Lundvik und einem vierköpfigen Gospelchor. „Too Late for Love“ ist einmal mehr schwedische Popmaßarbeit – aber auch hier gibt einen kleinen Schönheitsfehler: Musikalisch erinnert das tatsächlich ein bisschen an Cesar Sampsons „Nobody but You“ aus dem Vorjahr. Schweden nimmt Anleihen an Österreich – wohl ein Satz, der in der Song-Contest-Geschichte nicht allzu oft vorkommt.
Frische Töne aus Aserbaidschan, Malta und der Schweiz
Und ebenfalls viel zugetraut wird Aserbaidschan: Das Land scheute schon in den vergangenen Jahren weder Kosten noch Mühen. Mit Sänger Chingiz und der Nummer „Truth“ hat man ein Gesamtpaket, das wohl irgendwie an Justin Timberlake und Co. erinnern soll. Das ist vielleicht mäßig originell, dürfte aber durchaus funktionieren.
Musikalisch im selben Revier wildert Michela aus Malta. Die quietschbunte Nummer „Chameleon“ hat noch ein bisschen Dancehall-Einschlag abbekommen und soll wohl vor allem jüngeres Publikum – so vorhanden – abholen.
Luca Hänni, „Deutschland sucht den Superstar“-Gewinner von 2012, soll die jahrelange Durststrecke der Schweiz beim Bewerb endlich beenden. „She Got Me“ orientiert sich musikalisch an „Fuego“, dem Fast-Sieger aus Zypern aus dem Vorjahr, auch die Choreografin des Auftritts von Eleni Foureira hat man an Bord geholt. Ganz authentisch wirkt es allerdings nicht, wenn ein Schweizer als Latin-Lover-Impersonator von „Dirty Dancing“ singt.
Ethnorockballade erzählt Emanzipationsgeschichte
Die Armenierin Srbuk präsentiert mit der Ethnorockballade „Walking Out“ eine Emanzipationsgeschichte in aufwendiger Choreografie und Bühneninszenierung. Auch Sbruk startete ihre Karriere in Castingshows und macht mit Startnummer eins einen melodramatisch-bombastischen Auftakt zum zweiten Halbfinale. Ebenfalls Ex-Freunde besingen danach dann direkt hintereinander die Irin Sarah McTernan in „22“ und die Moldawierin Anna Odobescu mit „Stay“.
Zwei völlig unterschiedliche Inszenierungen und Songs – mit der gemeinsamen sehr schlechten Quote, was einen Finaleinzug angeht. Ein bisschen mehr Chancen werden der Rumänin Ester Peony, deren Liebeskummernummer „On A Sunday“ in düsterer Zombie-Schloss-Inszenierung auf die Bühne kommt, eingerechnet – Bloggerinnen und Blogger sind sich aber einig, dass die Kritik „Mittelmaß“ beim Song Contest eigentlich das gefährlichste Urteil darstellt.
Lettland versucht mit ruhigem Country-Folk den Erfolg der Common Linnets von 2014 zu imitieren. Die Gruppe Carousel rundum Sabine Zuga präsentiert die zurückgenommene Ballade „That Night“ in extrem reduzierter Performance.
Großes Drama, große Freude
Am anderen Ende der Skala kann man Kroatien heuer nicht vorwerfen, in irgendeiner Hinsicht nicht zu übertreiben. Der Kindercastingshowgewinner Roko singt die dramatische Ballade „The Dream“ mit überdimensionierten Engelsflügeln und eskalierendem Refrain.
Hinweis
Das Semifinale ist ab 21.00 Uhr live in ORF1 und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen. Vom Teletwitter-Team ausgewählte Tweets mit #ESCORF werden während der TV-Übertragungen auf der Teletext-Seite 780 eingeblendet. ORF.at begleitet den Bewerb mit einem Liveticker – samt Bildern, animierten GIFs und Social-Media-Kommentaren.
Mindestens genauso angestrengt ernst nimmt – trotz lustiger Inszenierung – die dänische Kandidatin und Ex-Eiskunstläuferin Leonora den Bewerb. Ihr Song „Love Is Forever“ enthält die Friedensbotschaft und macht zumindest die Fanblogger im Pressezentrum sehr glücklich, man berichtet von lautem Jubel bei ihren Proben.
Ethnoeinschlag darf nicht fehlen
Ganz auf eine Botschaft setzt Tamara Todevska aus Nordmazedonien: In „Proud“ geht es um weibliche Selbstermächtigung – durchaus mit Stil vorgetragen. Ebenfalls mit starker Stimme tritt Jonida Maliqi für Albanien an, der Song „Ktheju tokes“ fällt wohl in die Kategorie Stampfballade mit Ethnoeinschlag. Einen ebensolchen gibt es auch bei Norwegen: Das Trio KEiiNO verwendet beim Elektropopsong „Spirit in the Sky“ Joik-Einlagen, also den klassischen Gesangsstil der Samen.
Jurij Veklenko aus Litauen hatte bereits 2015 in Wien einen denkwürdigen Auftritt – und das, obwohl er nur tanzendes Begleitpersonal war: Monika Linkyte und Vaidas Baumila änderten im Finale kurzfristig ihre Choreografie und ließen bei den beiden Tanzpaaren jeweils die Männer und die Frauen sich gegenseitig küssen – unter, Überraschung, großem Jubel im Publikum. Ob es Veklenko mit „Run with the Lions“ auch ins Finale schafft, bleibt abzuwarten.