Jan Zahradil, Nico Cue, Ska Keller, Margrethe Vestager, Frans Timmermans und Manfred Weber
AP/Francisco Seco
Spitzenkandidaten

Schnelldebatte über die Juncker-Nachfolge

Klima, Brexit, Migration und Co.: Die sechs europäischen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten haben sich am Mittwoch in der einzigen gemeinsamen TV-Debatte vor der EU-Wahl im Schnelldurchlauf den großen Baustellen der Union gewidmet. Gespießt hat es sich da vor allem beim Thema Umwelt.

Im blau beleuchteten Plenarsaal des Brüsseler EU-Parlaments trafen jene sechs Spitzenpolitikerinnen und -politiker zusammen, die von ihren Fraktionen im Parlament für die Nachfolge des Kommissionschefs Jean-Claude Juncker nominiert wurden. Das EU-Parlament will gemäß dem umstrittenen System ja nur jemanden zum Kommissionschef wählen, der als Spitzenkandidat den Wahlkampf bestritten hat – das soll das Vertrauen in das Amt stärken.

Als Favorit galt bisher der Deutsche Manfred Weber (CSU) von der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) – doch ihm könnte noch kalter Wind seitens der Staats- und Regierungschefs, aber auch aus dem Parlament entgegenschlagen. Beim Duell ließ sich Weber das nicht anmerken – er gab sich zuversichtlich und forderte eine „Kommission des Neustarts“.

Jan Zahradil, Nico Cue, Ska Keller, Margrethe Vestager, Frans Timmermans und Manfred Weber
APA/AFP/Aris Oikonomou
Zahradil, Cue, Keller, Vestager, Timmermans und Weber (v. l. n. r.)

Große Idee, Rufe nach Fairness und weniger Europa

Mit Rufen nach großen Würfen wie einer Steuerreform und EU-weiten Mindestlöhnen ging sein niederländischer Konkurrent Frans Timmersmans von den Sozialdemokraten ins Rennen. Die für die liberale ALDE antretende dänische Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager – für viele eine Geheimfavoritin – plädierte dafür, dass sich Unternehmen in der EU an „ein Regelbuch“ halten müssen, es gehe um „faire Chancen“.

„Ein anderes Europa, in dem Frauen wirklich gleichgestellt und Menschenrechte geschützt werden“, forderte eingangs die deutsche Grüne Ska Keller. Ein Europa, das „weniger Europa, das Dinge besser macht“, forderte der konservative tschechische Kandidat Jan Zahradil. Den Wunsch nach mehr Solidarität sprach hingegen der spanische Kandidat der Linken, Nico Cue, aus.

Sechs Spitzenkandidaten und ihre Visionen

In ihren Eingangsstatements skizzierten die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten ihre Hoffnungen für die EU.

Weber bremst bei Klimaschutz – und erntet Kritik

Das Duell blieb wenig dynamisch, weil die Politikerinnen und Politiker nur einige Male miteinander debattieren durften. Das passierte dann vor allem beim Thema Klimaschutz. Weber stellte sich zwar hinter das Ziel, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen – „Pensionisten, Arme, Angestellte in der Autoindustrie“ dürften darunter aber nicht leiden. Es gelte, einen verträglichen Weg für alle zu beschreiten. Eine CO2-Steuer lehnte Weber ab. Er sei „gegen Bestrafung und für Innovation“. Einen „nachhaltigen Weg“ forderte auch Zahradil.

Daraufhin musste Weber Kritik von seinen Konkurrenten einstecken. „Ich bin die Ausreden leid“, sagte etwa Timmermans, der eine Steuer auf Kerosin und eine CO2-Steuer für alle Unternehmen forderte. Auch Keller warf Weber und seiner Partei vor, Klimaschutzmaßnahmen blockiert zu haben – etwa eine Reform des Emmissionshandels. Laut Weber kann die EU das Klima nicht alleine retten – es gelte, andere Staaten mitzunehmen. „Fangt bei Europa an“, quittierte Cue. Vestager verwies auf die zahlreichen Gesetze, die es bereits gebe, und mahnte, den Klimawandel auch als Chance für eine neue Ökonomie zu sehen.

Zündstoff bei Umweltpolitik

Zu einer regen Debatte führten die unterschiedlichen Auffassungen bei der Klimafrage.

Plan für Afrika gefordert

Entlang der Parteigrenzen verliefen die Meinungen zum Thema Migration und Flucht. Betont wurde die Wichtigkeit der Beziehung zwischen der EU und Afrika. „Ich fordere einen riesigen Plan für Afrika“, so Timmermans. Ähnliche Töne kamen von Weber, der einen „Marshall-Plan für Afrika“ will und im Falle einer Präsidentschaft einen eigenen Bereich in der Kommission für die Beziehungen zu Afrika einrichten will. Er forderte auch einen Ausbau der Grenzschutzmission Frontex. Gegen eine Quote und für Auffanglager außerhalb der EU sprach sich Zahradil aus.

„Migration wird bleiben“, sagte Vestager auch mit Verweis auf die Folgen des Klimawandels. Ohne ein „gemeinsames System und gemeinsame Solidarität wird man scheitern“. Dass das Sterben im Mittelmeer inakzeptabel sei, betonte Keller. Sie forderte Solidarität und Unterstützung für Gemeinschaften, die Flüchtlinge aufnehmen und geißelte das Ende der EU-Rettungsmission „Sophia“: „Wir wissen, wo sie sind, retten sie aber nicht.“ „Jedes Mal, wenn ein Mensch im Mittelmeer stirbt, verliert Europa einen Teil seiner Seele“, so auch Timmermans. Cue lobte indes Migration als einen Weg zur Verjüngung Europas.

Migrationspolitik in der EU

Welche Regeln sollen für die Migration nach Europa gelten? Die Kandidaten versuchen eine Antwort.

Timmermans: Erasmus für alle

Auch bei der Spar-, Steuer- und Außenpolitik gab es Kontroversen. Dass die Austeritätspolitik der vergangenen Jahre heute ein „großes Problem“ sei, kritisierte etwa Vestager. Auch Timmermans fordert ein Ende der Sparpolitik in Europa, um über Investitionen mehr Jobs für junge Leute zu schaffen. Zudem sprach er sich dafür aus, alle jungen Menschen in Europa auf Erasmus zu schicken und das Wahlalter zu senken.

Dass es ein wirtschaftsfreundliches Umfeld, Wachstum und Investitionen brauche, darin waren sich die Kandidaten weitgehend einig. Nicht so bei der Forderung nach einer Ausweitung der Ausbildungs- und Jobgarantie für Junge sowie einen europäischen Mindestlohn, der Vestager und Timmermans sinnvoll erscheint. Skeptischer zeigte sich hier Weber. Er betonte die Verantwortung der Regierungen bei der Haushaltsführung und sprach sich auch gegen einen Mindestlohn aus.

Jugendarbeitslosigkeit in Europa

Eine Spaltung in wirtschaftlichen Fragen erkennen die Politikerinnen und Politiker an. Unterschiedlich sind die Lösungsstrategien.

Der „Skandal“ Steuervermeidung

Mehr Einigkeit herrschte beim Thema Steuergerechtigkeit: Es sei ein „Skandal“, dass so viele Großkonzerne in Europa Steuervermeidung betreiben würden, sagte etwa Keller. Es brauche eine Digitalsteuer und einen Mindeststeuersatz, und zwar ohne Ausnahme. Auch Vestager, die für ihre Millionenstrafen gegen Konzerne und ihre strikte Auslegung des Wettbewerbsrechts bekannt ist, pflichtete diesen beiden Forderungen bei. Die Einnahmen könne man den vielerorts maroden Sozialsystemen zuführen, so Cue.

"Wir müssen Alexa Fragen: ‚Alexa, wann zahlt Amazon endlich Steuern?‘, bekräftigte Timmermans seine Forderung nach einer Unternehmenssteuer von mindestens 18 Prozent. Dass es Steuergerechtigkeit brauche und Steuerflucht vermieden werden müsse, betonte auch Zahradil. Er forderte allerdings, dass die Steuerhoheit in der Hand der Staaten bleiben müsse. „Ich bin für Steuerwettbewerb, es braucht aber eine Digitalsteuer“, sagte Weber. Diese solle dazu verwendet werden, die Verlierer der Digitalisierung aufzufangen.

Steuergerechtigkeit in der EU

Der erhoffte Kampf gegen Steuervermeidung erwies sich als gemeinsamer Nenner – doch es gibt beträchtliche Hürden.

Kritik an Einstimmigkeitsprinzip

Weitgehend einig waren sie sich über ein entschiedeneres Auftreten gegenüber der Politik von US-Präsident Donald Trump und mehr Einigkeit auf der Weltbühne. „Es gibt Raum für ein selbstbewussteres Europa“, sagte Vestager. „Und vielleicht auch für ein etwas durchsetzungsstärkeres.“ Die EU müsse eine Kraft des Friedens und der Menschenrechte sein, so Keller. Das werde aber dadurch untergraben, dass man Waffen in Kriegsstaaten sende. Um Europa im außenpolitischen Bereich handlungsfähiger zu machen, forderte er ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips – das kommentierte Zahradil kritisch.

„Koalieren wir, oder nicht?“

Kritik gab auch beim Umgang mit nationalistischen Strömungen. Diesen müsse man entschieden entgegentreten: „Es ist kein Naturgesetz, dass diese Parteien größer und größer werden“, sagte Keller. „Als Parteien müssen wir entscheiden: koalieren wir oder nicht, vertreten wir diese Werte oder nicht“, sagte sie mit Verweis auf die ÖVP-FPÖ-Regierung und die EVP-Mitgliedschaft der ungarischen FIDESZ-Partei.

Funktionalität der EU

Der Brexit ist nur ein Thema, das für Verunsicherung innerhalb der EU sorgt.

Der implizit angesprochene EVP-Chef Weber meinte, man müsse „demokratisch agieren“, es brauche „Mechanismen, um unsere Werte zu verteidigen“. Er schlug unabhängige Mechanismen vor, um Akteure zu sanktionieren, die europäische Werte missachten. Selbstkritisch gab sich Timmermans: „Viele Menschen, die früher meine Partei gewählt haben, wählen heute rechte oder gar rechtsextreme Parteien.“ Die Menschen seien enttäuscht – was ihn etwa beim Blick auf den Brexit nicht wundere. Dieser sei „Game of Thrones auf Steroiden“.

Dass mehr Europa „die universelle Lösung für alles“ sein müsse, kritisierte Zaradil. "So wird kein Wandel kommen. Cue ortete ein tiefergehendes Problem: „Entweder man ist immer den Märkten hörig oder man hilft den Menschen“, so der Spanier. Einen praktischeren Zugang wählte Vestager: Sie forderte eine klarere Sprache und mehr Transparenz und kritisierte, dass sich die EU oftmals in bürokratischen Wortungetümen wie GDPR (EU-DSGVO, EU-Datenschutzgrundverordnung) verliere. „Wir müssen uns verpflichten, die Wahrheit zu sagen“ und die Menschen „in echte Debatten zurückholen.“

Feilschen um Topjobs naht

Die rund anderthalbstündige Debatte endete mit kollektiven Aufrufen, zur Wahl zu gehen. Dazu sind kommende Woche mehr als 400 Millionen Europäer und Europäerinnen aufgefordert. Sie können von Donnerstag bis Sonntag das neue Europaparlament wählen. In Österreich ist der Wahltag am Sonntag, 26. Mai. Unmittelbar danach dürften die Verhandlungen um die Topjobs in der EU beginnen. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben ein Vorschlagsrecht, müssen aber das Ergebnis der Wahl berücksichtigen.