Johannes Voggenhuber im ORF.at-Interview

1. Ilse: Wieso haben Sie nicht eine gemeinsame Liste mit den Grünen erstellt, um somit mehr Wähler zu bekommen?

Ich habe die Grünen eingeladen. Sie haben es ausgeschlagen. Das war’s.

2. Dr. Hatting: Welche Reformschritte in den EU-Organisationen werden Sie einleiten, damit ein laufender und spürbarer Verbesserungsprozess initiiert und fortgeführt wird?

Also, ich habe das ja schon im Verfassungskonvent getan, mit dem Ziel, eine europäische Demokratie zu entwickeln – die erste supranationale Demokratie der Geschichte. Vision dieses Wahl … oder für diesen Wahlkampf ist auch die Republik Europa, und das ergibt eine ganze Reihe von großen Reformen.

Zuerst soll einmal die europäische Einigung von einem Projekt der Eliten und der Staatskanzleien und der Regierungschefs zu einer res publica werden, zu einer Sache für uns alle. Europäische Volksabstimmung, Initiativrecht des Parlaments, Direktwahl des Rates, Öffentlichkeit in der Gesetzgebung des Rates, Ausbau der Volksbegehren und Bürgerinitiativen in der Europäischen Union.

Eine Fülle von Demokratiereformen, die, glaube ich, ein anderes Europa ergeben würden – nämlich eines, das unter der Souveränität seiner Bürgerinnen und Bürger steht und nicht mehr unter Souveränität der Staaten.

3. Anonym: Die EU steht im Spannungsfeld zwischen Nationalismus und einem als übertrieben empfundenen bürokratischen Zentralismus. Wie kann man die jeweiligen Stärken der einzelnen Länder, das, womit sie sich identifizieren und auf das sie mit Recht stolz sind, in den Dienst der Gemeinschaft stellen?

Also, Europa ist ein Versprechen. Zu dem wurde es am 8. Mai 1945, dem Ende des Nationalsozialismus, auf den Trümmern zweier Weltkriege, und dieses Versprechen heißt Überwindung des Nationalismus und des autoritären Denkens – für immer.

Das, was heute Europa bedroht, ist die Wiederauferstehung des Nationalismus, des Rassismus, der Inhumanität, der Infragestellung des Rechts – in Österreich, aber auch in Europa. Der 26. Mai wird hier ein Entscheidungstag. Die nächsten fünf Jahre werden ein entscheidendes Ringen, ob der Geist des 19. Jahrhunderts siegt über den Geist des 21. Jahrhunderts.

Und was die Frage der Nationalstaaten betrifft: Die Vielfalt Europas besteht in seinen Regionen. Der Nationalstaat wird nicht abgeschafft, aber er soll in einer großen gemeinsamen Anstrengung ein europäisches Gemeinwesen bilden.

4. Ingrid Mayer: Sehr geehrter Herr Voggenhuber, wie halten Sie es mit der Flüchtlings- bzw. Migrantenpolitik? Unterscheiden Sie zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten? Erhalten beide Asyl in Österreich in unbegrenzter Zahl?

Nein, natürlich nicht. Die Genfer Konvention ist sehr klar: Wer verfolgt ist, der hat einen Anspruch auf Asyl. Hinter dem Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ verbirgt sich natürlich viel. Es gibt tatsächlich die, … wie soll ich sagen … die ihr Glück suchen auf der Welt.

Aber es gibt auch Elendsflüchtlinge. In Zukunft wird es vielleicht Klimaflüchtlinge geben, auf die wir uns vorbereiten müssen. Und zwar indem wir uns von der Abwehr, von der reinen und bloßen Abwehr der Flüchtlinge, auf die Eindämmung der Ursachen der Flucht und der Migration konzentrieren.

Und das bedeutet einen großen Plan für Afrika: nicht die Entwicklungshilfe reduzieren, nicht die legalen Fluchtwege sperren und sie den Verfolgern überlassen. Sondern einen massiven Einsatz um die Entwicklung der Regionen, aus denen die Flüchtlinge kommen, auch zu fördern.

5. Daniel Tunhardt: Klima und Umwelt: Haben Sie drei ganz konkrete Punkte für mich, die vielleicht auch wehtun, für die Sie sich starkmachen werden? Damit Sie für mich und viele Gleichdenkende „echte“ Grüne Alternative wählbar sind?

Also, der Kampf um die Umwelt beschäftigt mich seit 40 Jahren, und sitze ja auch hier hauptsächlich deshalb, weil hier die große Demonstration der Jugendlichen für den Klimaschutz stattfindet. Es muss eine umfassende Steuerreform geben, weg von der Belastung der Arbeit hin zum Verbrauch von Ressourcen, von Energie und einer Besteuerung der Emissionen.

Das … wir müssen raus aus den fossilen Brennstoffen und aus den fossilen Energieträgern. Das hat eine ganze Fülle von, auch unpopulären, Folgen: der massive Umbau aus dem Individualverkehr in den öffentlichen Verkehr.

Das hat die Folgen von Energieeinsparungen auf allen Gebieten. Ich sehe auch nicht, dass das automatisierte Individualfahrzeug mit auch einem ungeheuren Energieverbrauch wirklich die Zukunft ist. Die Zukunft liegt in einem massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Unpopulär, aber notwendig ist die Besteuerung des Kerosins für den Flugverkehr. Eine ganze Fülle von Dingen, an die wir uns gewöhnen müssen, aber für die wir auch eine überlebensfähige Umwelt als Lohn dafür bekommen.

6. Anonym: Wie stehen Sie zu veganer Ernährung, vor allem vor dem Hintergrund, dass die tierische Landwirtschaft einer der größten Verursacher von CO2-Emissionen ist? Welche Maßnahmen befürworten Sie, um eine pflanzliche Ernährungsweise zu fördern?

Also, ich bin selbst kein Veganer und will das auch nicht irgendwelchen Menschen aufzwingen. Ich bin überhaupt, so weit als möglich, gegen Verbotspolitik. Die Landwirtschaft ist allerdings insgesamt eine ganz andere Frage. Sie gehört ökologisiert, die regionale Versorgung gehört an die erste Stelle, die biologische Landwirtschaft. Maßnahmen, zum Beispiel ein Förderverbot für die Agrarindustrie, ist eine Folge.

Auch das knüpft an die letzte Frage an, mit der Frage des Populären: Ja, viele Nahrungsmittel werden damit teurer werden. Darauf antworte ich: In meinem Konzept mit einer dramatischen Entlastung der Arbeit und einer Verlagerung der Arbeit auf die umweltschädlichen Bereiche der Wirtschaft und der Energieverbrauchenden. Wir müssen weg von der industrialisierten Landwirtschaft mit all den enormen Problemen. Das ist einmal ein erster großer Schritt.

7. Eduard V. fragt: Wie stehen Sie angesichts zunehmender Digitalisierung und Automatisierung in der Arbeitswelt einem „Bedingungslosen Grundeinkommen“ auf EU- Ebene gegenüber?

Ich bin für einen europäischen Mindestlohn, abhängig von der Kaufkraft eines Landes. Vor allem bin ich dafür, dass das Sozialrecht Gemeinschaftsrecht wird, damit der Rat in diesem Bereich nicht viel unnütze Poesie verbreitet und zugleich aber das Sozialdumping in Europa befördert. Umweltfragen sind Gemeinschaftsrecht geworden, Sozialfragen müssen das werden.

8. Hermann am Inn: Welche Wege muss das neu gewählte EU-Parlament beschreiten, um dem „Sargnagel Europas, dem Lobbying“ wirksam entgegenzusteuern? Das ist neben dem sozialen Ausgleich eine der entscheidenden Fragen in unserer „Heimat Europa“.

Ich würde das vielleicht ein bisschen differenzierter sehen, gerade als Österreicher. Der Unterschied zum europäischen Lobbyismus ist der, dass bei uns die Lobbyisten im Parlament sitzen, während sie in Brüssel sich erfassen lassen müssen, mit Ausweisen. Die Abgeordneten müssen ja angeben, wenn sie Berichterstatter sind, mit wem sie geredet und so weiter haben.

Das ist schon einmal ein kultureller, großer Unterschied. Ich glaube nicht, dass das die „Geißel Europas“ ist. Wenn in diesem Zusammenhang etwas die Geißel ist, dann ist das die inhaltliche politische Bestechlichkeit der Politiker. Das hat mit Lobbyisten wenig zu tun und mehr mit dem Rückgrat der Abgeordneten.

9. Philipp fragt: Wie würden Sie das Demokratiedefizit der EU angehen? Welche konkreten Pläne haben Sie, um den Bürgern mehr Gestaltungsmöglichkeiten auf EU-Ebene zu ermöglichen?

Das Demokratiedefizit ist eines der schweren Probleme. Es zu überwinden ist überhaupt die Voraussetzung für alle weiteren Einigungsschritte. Die Vertrauenskrise zwischen EU und Bürgerinnen und Bürgern halte ich für die entscheidende Krise. Wir brauchen uns nicht über Kompetenzen streiten – mehr oder weniger, über die Aufgabenverteilung –, solange diese Frage nicht geklärt ist.

Das Demokratiedefizit in der Europäischen Union hat zwei Namen: Das erste ist der Rat. Ich sagte schon: Der gehört direkt gewählt, gehört öffentlich gemacht. Er verletzt derzeit sowohl die Gewaltenteilung wie das Grundgebot der Demokratie nach Öffentlichkeit der Gesetzgebung. In Wahrheit handelt es sich da um einen Reichsfürstenrat, der sich gegenseitig mit Vetos blockiert, erpresst, nötigt und so weiter. Das zweite Demokratiedefizit – das massivste vielleicht – ist die geringe Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament.

Das zu überwinden ist Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger selber. Ihr eigenes Parlament – im Übrigen der fortschrittlichste und offenste Ort der Auseinandersetzung über die Zukunft Europas. Dieses Parlament zu schwächen wäre ein verheerender Einfluss auf den Gang der Dinge, und deshalb, glaube ich, könnten die Bürgerinnen und Bürger etwas zur Überwindung des Demokratiedefizits Nummer eins beitragen, indem sie am 26. Mai zur Wahl gehen.

10. Adrian Hollaender fragt: „Europa der Vaterländer“ – sehen Sie darin ein Schlagwort der heutigen rechten Parteien oder einen Begriff der Gründungsväter der EU?

Ich sehe darin ganz eindeutig ein Codewort für Nationalismus, wie „Subsidiarität“ auch, die etwas ganz anderes in der Geschichte bedeutet haben. Ja, ich glaube, das ist einfach im Rahmen der Polemik, mit den Nationalisten und Rechten das entscheidende Wort.

Wer immer auch auf die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, schaut – ob es Klimaschutz ist, ob es Migration ist, ob es die Stellung Europas gegenüber globalen Finanzmärkten oder neuen aufsteigenden Weltmächten ist – man wird unvermeidlich zu dem Schluss kommen, dass wir sie nur gemeinsam lösen können, und dass der Nationalstaat eigentlich täglich seine Zukunftsunfähigkeit unter Beweis stellt.