Geht man davon aus, dass der Song Contest bei aller Entrücktheit vom wirklichen Leben doch ein bisschen so etwas wie gesellschaftliche Realitäten abbildet, dann kann der Triumph der nachdenklichen Männer, die doch Gefühle zeigen, vielleicht tatsächlich ein Hinweis sein: Ein Erfolg des Gegenentwurfs zu dem, was in den vergangenen Monaten sehr dominant als „toxische Männlichkeit“ die Runde gemacht hat.
Duncan Laurence ist jedenfalls der logische Sieger des Abends. Seine Ballade „Arcade“ ist sofort wiedererkennbar, hat genug Hymnenpotenzial und hört sich doch nicht sofort nach Song-Contest-Ware an. Vor allem ist es ein Sieg des Bodenständigen – und keine Nummer, die offensichtlich polarisiert, wie es in den vergangenen Jahren der Fall war.
Niederlande: Duncan Laurence „Arcade“
Das Siegerlied des 64. Song Contest.
„1944“ von Jamala 2017, „Amar pelos doi“ von Salvador Sobral 2018 und „Toy“ von Netta im Vorjahr: Immer gab es neben Begeisterung auch fassungsloses Kopfschütteln. „Arcade“ ist Konsensmusik, vorgetragen von einem netten jungen Mann, dem perfekten Schwiegersohn. Da brauchte es nicht einmal viel Tamtam auf der Bühne.
Starkes Italien
Nicht wegen, sondern eher trotz der Bühnenshow kam Mahmood mit der Abrechnung der Beziehung zu seinem Vater auf Platz zwei. Überhaupt schickte Italien nun zum dritten Mal in Folge einen Beitrag, der sich sehen lassen konnte: Eigenständige, zeitgemäße Musik und auch Texte, die nicht eine Aneinanderreihung englischer Phrasen oder holzschnittartige Botschaften sind. Francesco Gabbani eroberte mit „Occidentali’s Karma“ 2017 Platz sechs, Ermal Meta und Fabrizio wurden mit „Non Mi Avete Fatto Niente“ im Vorjahr Fünfte.
Keiner will gewinnen?
Angesichts eines eher schwachen Jahrgangs in Tel Aviv wird die Frage immer lauter, welche Länder den Song Contest eigentlich gewinnen wollen. Russland ist das Bestreben sicher nicht abzusprechen, Schweden freilich auch nicht, wobei die Schnittmuster für die Beiträge langsam in die Jahre zu kommen scheinen.
John Lundvik erhielt am Samstag zwar die meisten Punkte der Expertenjurys, die damit praktisch gleich abstimmten wie im Vorjahr, als das dem schwedischen Beitrag doch sehr ähnliche „Nobody But You“ von Cesar Sampson zur Halbzeit der Wertung in Führung lag. Beim Publikum fiel „Too Late for Love“ aber eher durch.
Ambitioniert und teuer produziert versuchte es auch meist Aserbaidschan, brachte immerhin Platz sieben. Australien scheute beim Auftritt weder Kosten noch Mühen, doch das spektakuläre Stangenballett von Kate Miller-Heidke konnte die Songschwäche nur bedingt kaschieren.
Deutscher Bauchfleck
Bei einigen Ländern muss man sich tatsächlich die Frage stellen, ob sie nicht wollen oder nicht können. Die Beiträge Großbritanniens grenzen seit Jahren an Arbeitsverweigerung. Spanien veranstaltet jedes Jahr eine riesige Vorausscheidung, bei der dann Kandidaten gewinnen, die auf Eurovisionsebene absolut chancenlos sind. Ob das Absicht ist, oder man zu sehr in der eigenen nationalen Musikblase gefangen ist? Bei Deutschland legten S!sters mit genau null Publikumspunkten den nächsten Bauchfleck hin, der vierte Platz von Michael Schulte im Vorjahr war wohl ein Zufallstreffer und keine Trendwende.
Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Ländern scheint jedenfalls die Entwicklung des Song Contest der vergangenen Jahre entweder verschlafen zu haben oder absichtlich zu ignorieren. Insgesamt muss man am Ende froh sein, wenn eine Handvoll Länder zufällig, um nicht zu sagen versehentlich, eine potenzielle Siegernummer ins Rennen schickt.
Geborgte Ideen
Immer mehr Länder scheinen zudem auf Nummer sicher gehen zu wollen und sich mangels eigener Originalität die einigermaßen erfolgreichen Ideen anderer auszuborgen – freilich ohne damit echte Chancen auf den Sieg zu haben. Das von Schulte im Vorjahr besungene Vaterthema tauchte heuer zweimal (Ungarn und Frankreich) auf, ebenso die Frauenselbstermächtigungsbotschaft der Vorjahressiegerin Netta (Nordmazedonien und Deutschland). Bilal Hassani aus Frankreich versuchte sein Glück als verschärfte Conchita-Reprise, scheiterte dabei nicht nur am Song.
„Fuego“ von Eleni Foureira von Zypern 2018 „inspirierte“ die Schweiz, die mit Luca Hänni dennoch mit Platz vier das beste Ergebnis seit Jahren erreichte. Und Zypern schickte die Nummer mit neuem Text und anderer Haarfarbe gleich noch einmal. Dänemark wiederum trat mit einer upgecycelten Version des 90er-Hits „Lemon Tree“ an.
Warum Nordmazedonien?
Neben recht ununterscheidbaren Dance-Nummern bleibt dann noch das jedes Jahr gefühlt x-fach bediente Genre Powerballade, vorgetragen von Frauen mit dramatischen Frisuren und wallenden Gewändern. Davon schafft es dann maximal eine in die erste Hälfte der Ergebnisliste. Dass das heuer ausgerechnet Nordmazedonien war und Tamara Todevska mit „Proud“ massenhaft Jurypunkte und den zweiten Platz bei den Experten erreichte, ist einigermaßen mysteriös.
Nordmazedonien: Tamara Todevska „Proud“
Sicherlich die Überraschung des Abends: Platz zwei bei den Experten und Platz acht insgesamt.
Die recht klar formulierte Frauenbotschaft mag dazu beigetragen haben, Bilder des eigenen Kindes an den riesigen LED-Wänden und eine klare, leicht musicalhafte Melodie vielleicht auch. Vielleicht handelte es sich aber einfach um eine Art Einstandsgeschenk zum neuen Namen des Landes, der ja erst seit ein paar Monaten feststeht.
Norweger als Sieger der Herzen
Die zweite große Überraschung des Abends war der Sieger der Publikumswertung: KEiiNO aus Norwegen räumten mit ihrer Mischung aus Eurotrash, Schlager und samischen Gejodel bei den Fernsehzuseherinnen und -zusehern ordentlich ab. Der damit errungene Platz fünf lässt befürchten, dass gleich etliche Länder im nächsten Jahr das zum Vorbild nehmen und auch wieder – und wohl weit weniger charmanten – Eurotrash in die Niederlande schicken.
Norwegen: KEiiNO „Spirit In The Sky“
Die Publikumslieblinge kamen heuer aus Norwegen.
Mut wird nicht immer belohnt
Eine eigene Idee zu haben, ist ein Must beim Song Contest – kann aber auch furchtbar ins Auge gehen. Conan Osiris aus Portugal präsentierte sich sowohl optisch als auch akustisch als viel zu abgefahren. Auch die heimische Vertreterin Paenda ereilte ein ähnliches Schicksal: Der Mut, mit einer völlig unkompatiblen Nummer nach Tel Aviv zu fahren, wurde nicht belohnt. „Limits“ erwies sich als zu sperriger Song, der erst nach mehrmaligen Hören seine Wirkung entfalten kann. So viel Zeit hat man beim Song Contest nicht.
Besser erging es den Slowenen Zala Kralj und Gasper Santl, die trotz völliger Ereignislosigkeit auf der Bühne und einem vermeintlich dahinplätschernden Song immerhin 13. wurden. Auch der frische Zugang Tschechiens wurde erneut belohnt. Nicht dass eine in den Indiepop deutende Nummer wie „Friend of a Friend“ besonders originell wäre, aber sie stach jedenfalls heraus und brachten Lake Malawi Platz elf.
Defintiv herausgestochen haben auch Hatari aus Island mit der Hassnummer „Hatrid mun sigra“ und ihrem Latex-Bondage-Oufit. Platz zehn bringt dann so etwas, was aber auch heißt, dass die Lordi-Zeiten, in denen man als Bürgerschreck den Bewerb gewinnen kann, seit genau damals auch schon wieder vorbei sind.
Hochwertiger Showblock mit den Song-Contest-Allstars
Die Diversität ehemaliger Gewinner ließ sich im Rahmenprogramm der Finalshows auf unterhaltsame und aufwendig produzierte Weise nachvollziehen. Neben einer spektakulären Eröffnungssequenz, inklusive Song-Contest-Jumbojet, traten Ikonen der Showgeschichte auf – von Conchita Wurst über Mans Zermerlöw, Verka Serduchka und natürlich die Vorjahresgewinnerin Netta Barzilai.
Wie für jedes Gastgeberland war die Austragung damit auch für Israel der Jackpot in Sachen Fremdenverkehrswerbung. Während der Song Contest anderswo – etwa in Wien – aber schon während der Finalwoche als Umwegrentabilitätssupermaschine für Millioneneinnahmen sorgte, ließ die internationale Fangemeinde beim kollektiven Song-Contest-Urlauben heuer in Scharen aus.
Teurer Partyurlaub für Song-Contest-Fans
Teilweise waren dafür Sicherheitsbedenken verantwortlich – nur gut zwei Wochen vor dem Bewerb war es zum schwersten Ausbruch der Gewalt seit fünf Jahren zwischen Israel und den militanten Palästinensern im Gazastreifen gekommen. Deutlich mehr Fans ließen sich aber von den hohen Kosten abschrecken, mit denen sich ein Song-Contest-Besuch heuer zu Buche geschlagen hätte. Nicht nur, dass Israel an sich kein billiges Urlaubsland ist – extrem unverschämte Preiserhöhungen der Hotels und deutlich teurere Ticketpreise für die Shows als in anderen Austragungsorten verhinderten eine richtig große Musikpilgerbewegung nach Israel.
Selbst die Tickets für die Fernsehshows, normalerweise lange ausgebuchte Highlights in der Contest-Woche, waren nicht ausverkauft und viele Karten wurden laut „Haaretz“ letztlich teils an Bewohner Tel Avivs verschenkt, um die Halle zu füllen. Für das Fernsehpublikum machte das wiederum nicht den geringsten Unterschied – abgesehen davon, dass man sich vielleicht ein bisschen über die allzu auffällig tosende Halle während des Auftritts von Lokalmatador Kobi Marimi mit der Ballade „Home“ wundern durfte.
Friede, Freude, Falafelsandwich
Über vier Stunden lang – und damit länger als jeder Song Contest zuvor – ist es Israel gelungen, ein völlig idealisiertes Bild des Landes in die Welt zu senden: keine Mauern, kein Stacheldraht, keine Raketen und bewaffneten Militärposten. Für rund 200 Millionen Fernsehzuschauer präsentierte sich das Land durchwegs einseitig als ewig sonniger Ferienclub voller glücklicher Menschen, langen Stränden, spektakulärer Landschaft und gutem Essen.
Dank der ultrastreng unpolitischen Ausrichtung des Bewerbs, die von der European Broadcasting Union (EBU) vorgegeben wird, wurde der Nahostkonflikt – sonst meist im Zentrum der internationalen Israel-Berichterstattung – so ausgeblendet, als würde er nicht existieren. Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden in Interviews nicht müde zu betonen, wie schnell man sich an die permanent hohen Sicherheitsvorkehrungen gewöhnt habe und wie sicher man sich generell in der Stadt fühle.
„Skandale“ in der unpolitischen EBU-Bubble
In einer derart hermetischen Regenbogenbubble nennt man letztlich dann schon Kleinigkeiten Skandal. Etwa die Disqualifikation der weißrussischen Jury, die ihre Punktevergabe vorab öffentlich gemacht hatte. Statt der echten Wertung entschied ein Algorithmus für Weißrussland, der die Punkte großzügig an Kandidaten im hintersten Feld verteilte – und damit für Irritation sorgte. Unter anderem, weil das Land seit seiner Teilname Russland damit erstmals leer ausgehen ließ und weil die zwölf Punkte für Israel vermutlich auch das Gastgeberland überraschten.
Für die EBU zweifellos ärgerlicher waren die zwei in die Show geschmuggelten Pro-Palästina-Botschaften. Die isländischen Kandidaten, denen im Vorfeld durchaus auch ein politisches Statement während der Bühnenshow zugetraut worden wäre, hielten kleine Palästina-Schals in die Kameras – mutmaßlich nicht zufällig erst bei ihrer letzten Einblendung während der Punktevergabe: Sanktionen im heurigen Bewerb hätten ihnen keine mehr drohen können. Und dass im Team von Superstargast Madonna ein Tänzerpaar mit kleinen Israel- und Palästina-Flaggen auf die Bühne kam, war in Wahrheit der geringste Skandal bei ihrem Auftritt.
Madonnas gruselige Selbstdemontage
Nach ewigem Hin und Her war ihre Teilnahme im Showblock des Finales erst im letzten Moment überhaupt bestätigt worden, Details über den Auftritt blieben bis zuletzt völlig unter Verschluss. Umso mehr ließen ihre fast jenseitige Inszenierung zu einem schief gesungenen „Like a Prayer“ und ihre neue Single „Future“ das Fernsehpublikum in Ungläubigkeit zurück – und in der Welle des Social-Media-Spotts war man sich sicher, dass Madonna mit dieser Performance im Bewerb nicht die geringste Chance auf einen guten Platz gehabt hätte.
Madonnas Gastauftritt
Gegen Mitternacht sang Madonna mit klar erkennbar schiefen Tönen ihren 30 Jahre alten Hit „Like a Prayer“ sowie als Weltpremiere den neuen Song „Future“.
War nach einem im Vorfeld aufgetauchten – und ebenfalls von extremer Tonunsicherheit geprägter – Probenmitschnitt noch gemutmaßt worden, dass der US-Star mit einem Playback-Auftritt zu sehen sein würde, wurde diese Theorie jedenfalls eindeutig widerlegt.