Heinz-Christian Strache
ORF
Von „Ibiza“ bis Neuwahl

Die Stunden der Entscheidung

Die Nachwehen des Skandals um das „Ibiza-Video“ halten die Innenpolitik in ihrem Bann. Zwischen dem Rücktritt von Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) und der Neuwahlankündigung vergingen etliche Stunden, in denen zwischen Ballhausplatz, Parteizentralen und Hofburg hektisch verhandelt wurde.

Die Regierungskrise war außer für eine Handvoll Eingeweihte nicht absehbar – wie ein Erdbeben erschütterte das „Ibiza-Video“ am Freitagabend Österreichs Innenpolitik. Seither steht kaum ein Stein mehr auf dem anderen. Viele Fragen bleiben aber darüber offen, was hinter den Kulissen in den entscheidenden Stunden passierte. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ließ rund sieben Stunden verstreichen, ehe er das Platzen der Koalition verkündete. Es herrscht kein Konsens darüber, ob die ÖVP die Neuwahl als unausweichlich ansah oder ein Weiterregieren mit der FPÖ ebenso möglich war.

Am Freitag, kurz nach 18.00 Uhr, gingen die deutschen Medien „Spiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“ mit dem „Ibiza-Video“ an die Öffentlichkeit. Strache versprach in den Aufnahmen aus dem Sommer 2017 einer angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen als Gegenleistung für Unterstützung im Wahlkampf öffentliche Aufträge. Schnell wird klar: Die Folgen werden groß sein. Die SPÖ sprach vom „größten Skandal“ in der jüngeren Geschichte Österreichs. Die Opposition forderte schnell Rücktritte und Neuwahlen. Kurz lässt über einen Regierungssprecher für Samstag eine Erklärung ankündigen.

„Alles offen“

Am Samstag in der Früh war bereits bekannt, dass Strache bald seinen Rücktritt erklären würde. Vormittags war er beim Bundeskanzler bestellt, später wurde eine Erklärung angekündigt. Gerüchten zufolge bot die FPÖ rasch Verkehrsminister Norbert Hofer als Ersatz für Strache an, um die Koalition weiterführen zu können und eine Neuwahl zu vermeiden. Aus dem Kanzleramt hieß es zu dem Zeitpunkt noch: „Es ist noch alles offen.“

Erklärung von Strache

Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) hat am Samstag bei einer Pressekonferenz seinen Rücktritt bekanntgegeben.

Strache trat kurz nach Mittag vor die Kameras im Palais Dietrichstein, dem Bundesministerium für öffentlichen Dienst und Sport. Um 12.25 Uhr meldet die APA, Strache trete zurück. Die Veröffentlichung des Videos nannte Strache, der seine Partei bis dahin 14 Jahre geleitet und bis in eine Regierung geführt hat, „ein gezieltes politisches Attentat“. Und er bestätigte, die FPÖ wolle die Koalition fortsetzen. Wenig später folgte der Rücktritt des geschäftsführenden FPÖ-Klubobmanns, Johann Gudenus. Kurz wollte sich ursprünglich bald nach Strache an die Öffentlichkeit wenden.

Kurz führte viele Telefonate

Für den Nachmittag war in Wien eine Demonstration auf dem Ballhausplatz geplant, Hunderte versammelten sich aber bereits am Vormittag. Auf Plakaten forderten die Demonstranten und Demonstrantinnen eine Neuwahl. Sie warteten mit Spannung auf Kurz’ Statement, ob es zu dieser kommen werde oder in der Regierung Köpfe ausgetauscht würden.

Statement von Bundeskanzler Kurz

Die ÖVP-FPÖ-Regierung ist nach nur einem Jahr und fünf Monaten Geschichte. ÖVP-Kanzler Kurz spricht sich in einer Pressekonferenz für vorgezogene Wahlen zum schnellstmöglichen Zeitpunkt aus.

Doch die Stellungnahme ließ auf sich warten – Stunden um Stunden. Erst um 16.21 Uhr verkündete das Bundeskanzleramt, Kurz werde am Abend sprechen. Was folgte, waren lange Beratungen. Der PR-Berater Wolfgang Rosam sagte in der ORFIII-Sendung „Politik live“, Kurz habe in dieser Zeit viele Menschen angerufen, ihn selbst eingeschlossen. Kurz habe Rat von mehreren Seiten eingeholt.

FPÖ geht in Angriffsmodus

Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) warf der ÖVP vor, eine getroffene Vereinbarung gebrochen zu haben. Man habe sich mit der ÖVP auf den Rückzug Straches und Gudenus’ geeinigt. Danach sei plötzlich auch seine Person infrage gestellt worden, so Kickl. „Es ist ein Rückfall in die Untiefen der ÖVP-Machtpolitik, die dieses Land so viele Jahre gelähmt gehalten hat“, so Kickl. Am Montag sagte er zudem, er sei persönlich gar nicht informiert worden.

Erklärung von Bundespräsident Van der Bellen

Bundespräsident Alexander Van der Bellen gab bekannt, dass vorgezogene Wahlen im September stattfinden sollen.

Bereits am Wochenende kamen Vorwürfe der FPÖ Richtung Kurz: Der geschäftsführende Landes- und Klubobmann der FPÖ Niederösterreich, Udo Landbauer, sagte, Kurz habe Kickl loswerden wollen und habe „das mit dem Koalitionsbruch“ erpresst. Das sei „versuchte Erpressung am Rücken der Bevölkerung“. Tirols FPÖ-Chef Markus Abwerzger sagte, Kickls Abgang sei die „alleinige Forderung der ÖVP, gegen die wir uns ganz klar ausgesprochen haben. Ansonsten hätte die Volkspartei überhaupt keine Bedenken gehabt, die Koalition fortzusetzen. Bezeichnend“, so Abwerzger. Auch Kickl selbst griff die ÖVP via Facebook scharf an.

Blümel nannte Aufklärung als Bedingung

Kurz habe mit der geforderten Übergabe des Innenministeriums aber nicht nur die inhaltliche Kontrolle über die Asyl- und Migrationspolitik erlangen, sondern auch seinen parteipolitisch-strategischen Fehler aus den Regierungsverhandlungen, „die schwarze Machtdrehscheibe Innenministerium mit allen personellen Handlungsoptionen aus den Händen zu geben“, kompensieren wollen. „Die Alt-ÖVP hat ihm den Verlust dieses schwarzen Machtnetzwerkes nie verziehen“, so Kickl.

Kanzleramtsminister Gernot Blümel (ÖVP) bestritt am Sonntag, es habe das Angebot gegeben, weiterzuregieren. „Und aus diesem Grund haben wir gesagt, es ist auch notwendig, dass darüber hinaus Konsequenzen gezogen werden müssen, dass alles lückenlos aufgeklärt werden muss, und zwar auch glaubwürdig. Und wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es auch kein Weiterregieren. Und leider Gottes ist es zu dieser Variante gekommen“, so Blümel in der ZIB2.

Langes Warten

Während Kurz am Samstag versuchte, zu einem Beschluss zu gelangen, mehrten sich auf dem Ballhausplatz die Menschen. Tausende Demonstrierende skandierten „Wir wollen den Basti sehen“. Auch Vertreter und Vertreterinnen der Opposition hatten sich eingefunden und forderten Neuwahlen. Die Frage, was sich im Kanzleramt abspielt, wurde wiederholt gestellt.

Die lange Wartezeit beschädige Kurz’ Image, dass er entscheidungsstark sei, sagte Politikwissenschaftler Peter Filzmaier in ORF2. Der Skandal um das peinliche und brisante Video sei eigentlich groß genug für schnelle Entschlüsse. Erst kurz vor 20.00 Uhr trat Kurz schließlich vor die wartende Presse und verkündete Neuwahlen. „Genug ist genug“, sagte er. Er habe „in den letzten beiden Jahren für die inhaltlichen Erfolge vieles aushalten“ müssen. „Auch wenn ich mich nicht immer geäußert habe, ist es mir schwergefallen, das runterzuschlucken“, so Kurz.

Österreich im Dauerwahlkampf

Am nächsten Tag, dem Sonntag, empfing Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Kanzler in der Präsidentschaftskanzlei. Van der Bellen sagte nach dem Treffen, er wünsche eine Neuwahl Anfang September. Die FPÖ gab nach einer Sitzung des Parteipräsidiums die einstimmige Nominierung von Norbert Hofer als neuen Parteichef bekannt. Somit rutscht Österreich vom EU-Wahlkampf direkt in einen Nationalratswahlkampf. Im Strudel der Ereignisse kündigten zudem der Linzer Bürgermeister Klaus Luger (SPÖ) und Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) Neuwahlen an.