„Es ist und wird immer eine Angelegenheit von tiefem Bedauern für mich sein, dass es mir nicht gelungen ist, den Brexit zu vollziehen“, sagte May. Sie habe alles versucht, um eine Mehrheit im Parlament zu bekommen, doch das sei nicht gelungen. Es sei im besten Interesse des Landes, wenn ein anderer Premierminister Großbritannien aus der EU führe, so May in ihrer emotionalen Ansprache.
Sie sagte weiter, sie glaube daran, dass ihre Konservative Partei die Kraft zur Erneuerung habe. Das Brexit-Referendum im Juni 2016 sei ein Ruf nach einem „grundlegenden Wandel in unserem Land“ gewesen. Einen Konsens beim Brexit könne es nur geben, wenn alle Seiten zum Kompromiss bereit seien. „Kompromiss ist kein schmutziges Wort, das Leben hängt davon ab.“ May beendete ihre Stellungnahme unter Tränen.
Das Rennen um die Nachfolge ist eröffnet
Während des Staatsbesuchs von US-Präsident Donald Trump (3. bis 5. Juni) wird May noch im Amt sein. Die Wahl eines Nachfolgers dürfte etwa sechs Wochen dauern. Erwartet wird, dass es bis Ende Juli so weit sein könnte. Als aussichtsreicher Anwärter auf Mays Nachfolge gilt Ex-Außenminister Boris Johnson, der für viele das Gesicht der Brexit-Befürworter ist. Johnson hatte bereits Mitte Mai gesagt, er strebe das Amt des Regierungschefs an.
Laut einer letzte Woche veröffentlichten Umfrage von YouGov für die „Times“ sprachen sich 39 Prozent der Parteimitglieder für Johnson aus. Daneben werden aber auch ein gutes Dutzend andere Parteimitglieder als potenzielle Kandidaten gesehen, etwa der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab. In der YouGov-Umfrage liegt Raab bei 13 Prozent.
Die Briten und Britinnen hatten vor fast drei Jahren in einem Referendum mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt. Der EU-Austritt wurde bereits zweimal aufgeschoben und soll nun spätestens am 31. Oktober erfolgen, doch werden auch an diesem Termin Zweifel laut.
May probierte es mehrfach
Eigentlich wollte May den Zeitplan für ihren Rücktritt erst nach der Abstimmung über ihren Brexit-Gesetzesentwurf Anfang Juni vorlegen. Doch die Pläne waren im Parlament auf so viel Widerstand gestoßen, dass es wohl nicht mehr zu einem Votum darüber kommen wird. Die für Freitag geplante Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs wurde wieder abgesagt.
Emotionale Rede von May
Die britische Premierministerin Theresa May erklärte in einer emotionalen Rede den Fahrplan und die Gründe für ihren Rückzug – mit Tränen am Ende.
Das nun auf Eis gelegte Gesetzgebungsverfahren gilt als letzte Chance, das mit Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen Mays noch zu retten, das das britische Unterhaus bereits dreimal abgelehnt hat. Die Premierministerin hatte dazu Zugeständnisse an Brexit-Hardliner in ihrer Konservativen Partei und an die Opposition angekündigt. Auch eine Abstimmung, ob der Deal den Briten in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt werden soll, war geplant. May hatte den Vorstoß, den sie als „groß und kühn“ und als „neuen Brexit-Deal“ bezeichnete, noch am Mittwoch im Parlament verteidigt.
Vernichtende Kritik
Die Reaktionen darauf waren jedoch vernichtend gewesen. Sowohl aus den Reihen ihrer Torys als auch aus der Opposition hagelte es Kritik und Rücktrittsforderungen. Die Ministerin für Parlamentsfragen, Andrea Leadsom, legte am Mittwochabend aus Protest gegen die Pläne ihr Amt nieder. An ihre Stelle trat am Donnerstag Mel Stride, der zuvor als Staatssekretär im Finanzministerium tätig war.
TV-Hinweis
Ein „Weltjournal Spezial“ bringt am Freitag um 22.35 Uhr in ORF2 die Doku „Theresa May – die Kämpferin“.
Juncker: Frau von Mut
Die EU-Kommission machte nach der May-Ankündigung klar, dass sich die Position der EU zum Brexit nicht verändert hat. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker würdigte May als „Frau von Mut“. Er wolle weiter mit ihr in Kontakt bleiben, sagte eine Kommissionssprecherin in Brüssel. Er habe die Rücktrittsankündigung von May „ohne persönliche Freude“ verfolgt, sagte die Sprecherin. „Der Präsident hat die Zusammenarbeit mit Premierministerin May gemocht und sehr geschätzt.“ May sei „eine Frau von Mut“, für die Juncker „großen Respekt“ habe.
ORF-Korrespondentin Pöcksteiner aus London
Eva Pöcksteiner berichtet, warum May ausgerechnet jetzt den Fahrplan für ihren Rücktritt verkündet hat.
Der EU-Kommissionschef werde ebenso jeden neuen britischen Premierminister respektieren und zu diesem Arbeitsbeziehungen aufbauen, „wer auch immer es sein wird, und ohne seine Unterredungen mit Premierministerin May zu stoppen“. Inhaltlich gebe es „keine Änderungen“ der EU zum Brexit. „Wir haben unsere Position zum Austrittsabkommen und zur politischen Erklärung (über die künftigen Beziehungen) klargemacht“, sagte die Sprecherin weiter. Das gelte auch für den Rat der 27 verbleibenden EU-Staaten. Die EU-Kommission stehe für jeden neuen britischen Premier zur Verfügung.
Kurz hofft auf Vernunft
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sieht mit dem angekündigten Rücktritt nicht automatisch das Ende des vorliegenden Brexit-Plans. „Der zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ausgehandelte Austrittsvertrag für einen geordneten Brexit liegt weiter auf dem Tisch“, schrieb Rutte am Freitag auf Twitter. May habe er Dank und Respekt übermittelt.
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hofft, dass Mays Nachfolger einen geordneten Brexit aushandeln wird. „Ich hoffe, dass sich – unabhängig von ihrer Rücktrittsmitteilung – in Großbritannien die Vernunft durchsetzt“, so Kurz am Freitag auf Twitter. „Ich habe Theresa May als eine prinzipientreue, willensstarke Politikerin kennengelernt, die ihr Land in einer Zeit großer Unsicherheit gesteuert hat.“
Corbyn fordert Neuwahl
Auch Johnson meldete sich zu Wort. „Eine sehr würdevolle Erklärung von Theresa May. Danke für deinen
stoischen Dienst für unser Land und die Konservative Partei. Es ist
jetzt an der Zeit, ihre Mahnungen zu beherzigen: zusammenkommen und den Brexit vollziehen“, so der May-Gegner. Irland rechnet indes nicht damit, dass die EU einem neuen britischen Premierminister einen besseren Brexit-Deal anbieten wird als May, wie der irische Außenminister Simon Coveney am Freitag sagte.
Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn forderte eine Neuwahl. Weder May noch ihre gespaltene Partei seien in der Lage, das Land zu regieren, sagte der Labour-Chef. Mays Entscheidung zurückzutreten sei richtig. „Wer auch immer der neue Chef der Konservativen wird, muss das Volk über die Zukunft unseres Landes entscheiden lassen, und zwar über eine rasche Parlamentswahl.“ Nigel Farage, Europaabegordenter der Brexit-Partei und eine der treibenden Kräfte hinter dem Brexit-Referendum, warf May Fehleinschätzung vor. „Politisch hat sie die Stimmung im Land und ihrer Partei nicht richtig eingeschätzt“, sagte er.
„Respekt“ von Merkel
Ein Vertreter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron äußerte sich bedeckt zu den möglichen Folgen. Allerdings sei es entscheidend, dass die EU-Institutionen funktionierten. Die EU brauche rasch Aufklärung darüber, wie die nächsten Schritte Großbritanniens aussehen. Um über die Folgen von Mays Entscheidung zu spekulieren, sei es noch zu früh.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nahm die Entscheidung Mays „mit Respekt“ zur Kenntnis, wie eine Sprecherin in Berlin sagte. Das weitere Vorgehen beim Brexit hänge nun von den innenpolitischen Entwicklungen in Großbritannien ab, wozu die deutsche Regierung nicht Stellung nehme. Deutschland wünsche auch weiterhin einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Erforderlich dafür sei eine erfolgreiche Abstimmung im britischen Unterhaus.