Rückenansicht von Theresa May
AP/Alastair Grant
Großbritannien

Gerangel um May-Nachfolge

Nachdem die britische Premierministerin Theresa May ihren Rücktritt in Raten angekündigt hat, ist nun das Rennen um ihre Nachfolge eröffnet. Britische Medien rechnen mit bis zu 20 Anwärterinnen und Anwärtern für den Tory-Parteivorsitz sowie für den Premiersposten. Die besten Chancen werden dem polarisierenden „Brexiteer“ Boris Johnson eingeräumt.

Darüber dass der Name des neuen Premierministers „Boris Johnson“ lauten könnte, ist sich der Großteil der britischen Zeitungen einig. „Herr Johnson ist auf dem Weg dahin, Premierminister zu werden – solange er es nicht spektakulär vermasselt“, schreibt die „Financial Times“. Er habe das Rennen beinahe sicher gewonnen, heißt es auch im britischen „Guardian“. Laut einer letzte Woche veröffentlichten Umfrage von YouGov für die „Times“ sprachen sich 39 Prozent der Parteimitglieder für Johnson aus.

„Natürlich werde ich dafür kandidieren, Premierminister zu werden“, sagte Johnson am Freitag. Bereits Mitte Mai kündigte er an, Regierungschef werden zu wollen. Beerben könnte er May allerdings erst Ende Juli. Erst nachdem May mit 7. Juni als Chefin der Torys zurücktritt, beginnt das offizielle Auswahlverfahren für einen oder eine Nachfolgerin. Das Rennen um den Parteivorsitz dürfte einige Wochen dauern. May bleibt in dieser Phase kommissarisch als Regierungschefin im Amt.

Johnson – Gove: Duell geht in nächste Runde

Johnson plädiert für einen EU-Austritt zu dem bisher geplanten Termin am 31. Oktober. Dass es zu einem „No Deal“ komme, glaubt er nicht. Der ehemalige Londoner Bürgermeister und spätere Außenminister unter May war eine der führenden Figuren der Brexit-Kampagne vor dem Referendum im Jahr 2016. Nach dem Rücktritt von David Cameron war er damals davor, Premierminister zu werden. Kurz vor Fristende zog er seine Kandidatur zurück – wegen jener seines bis dahin engen Mitstreiters, dem aktuellen Umweltminister Michael Gove.

Bildcombo zeigt: Angela Leadsom, Boris Johnson, Jeremy Hunt, Michael Gove; Sajid Javid und Dominic Raab
APA/AFP/STF
V. l. n. r.: Andrea Leadsom, Boris Johnson, Jeremy Hunt, Michael Gove, Sajid Javid, Dominic Raab

Gove könnte Johnson nun neuerlich einen Strich durch die Rechnung machen. Auch er gilt als einer der möglichen Nachfolger Mays – wenngleich ihn Buchmacher nicht als aussichtsreichsten Kandidaten sehen. Er gilt ebenso als einer der prominentesten Verfechter des Brexits in der Kampagne vor dem Referendum. Gove wird als einer der effektivsten Minister im Kabinett betrachtet. Unklar ist noch, ob er tatsächlich kandidieren möchte.

Außenminister Hunt steigt in Ring

Auf jeden Fall antreten möchte ein anderes, prominentes Mitglied aus Mays Kabinett: Außenminister Jeremy Hunt. Hunt kündigte noch am Freitag seine Kandidatur an und ist damit das erste offizielle Kabinettsmitglied. Er übernahm das Außenministerium im Juli nach Johnsons Rücktritt.

Im Referendum stimmte er für den Verbleib seines Landes in der EU, heute gilt er als Befürworter eines geregelten Brexits. Gehe es allerdings um die Wahl zwischen einem ungeregelten Brexit und einem Verbleib in der EU, würde er sich nach eigenen Worten für den ungeregelten Brexit entscheiden.

Der „Brexit-Purist“ und die Thatcher-Bewunderin

Hinter Johnson, aber vor Gove und Hunt liegt der YouGov-Umfrage nach mit 13 Prozent der einstige Brexit-Minister Dominic Raab. Er trat vor einem Jahr als Brexit-Minister zurück – aus Protest gegen Mays Entwurf eines Brexit-Vertrags. Das Abkommen bezeichnete er als „schlecht für unsere Wirtschaft und unsere Demokratie“. Raab ist für den EU-Austritt seines Landes. Die „Times“ bezeichnet ihn als Brexit-Puristen, der im selben Wählerpool fischt, wie Johnson.

Theresa May
Reuters/Hannah McKay
May am Freitag bei ihrer Ankündigung vor Journalisten und Journalistinnen

In der Riege der möglichen Nachfolger Mays liegt auch eine Tory-Politikerin, die wie Johnson und Gove bereits 2016 gegen May angetreten war: die Brexit-Hardlinerin Andrea Leadsom. 2016 schaffte sie es gar auf den zweiten Platz. Erst am Mittwoch trat sie als Mehrheitsführerin im Unterhaus zurück und kritisierte den Brexit-Kurs der Regierung. Damit beschleunigte sie womöglich den Abschied ihrer einstigen Rivalin. Als Kompromisskandidatin gilt sie bei den Torys als weithin konsensfähig. Leadsom arbeitete lange Zeit als Bankerin und ist eine Bewunderin der einstigen Premierministerin Margaret Thatcher.

Graham Brady gilt als Überraschungskandidat

Chancen werden derzeit überdies noch dem aktuellen Innenminister Sajid Javid sowie der Arbeitsministerin und May-Vertrauten Amber Rudd eingeräumt. Ob sie antreten wollen, ist noch unklar. Jedenfalls ihren Hut in den Ring werfen der BBC zufolge Ex-Arbeitsministerin Esther McVey und Entwicklungshilfeminister Rory Stewart. Als Überraschungskandidat gilt seit Freitag der Vorsitzende des einflussreichen 1922-Komitees, Graham Brady.

Theresa May kündigt Rücktritt an

May hat ihren Rücktritt als Parteichefin angekündigt. Sobald die Nachfolge feststünde, wolle sie auch ihr Amt als Regierungschefin zurücklegen, so May.

Zum Prozedere: Wer als Kandidat nominiert werden will, benötigt die Unterstützung zweier konservativer Abgeordneter. Mit Abschluss des Nominierungsprozesses stimmen die Tory-Abgeordneten dann mehrfach ab, um das Kandidatenfeld zu verkleinern. Sie haben in geheimer Wahl jeweils eine Stimme. Wer die wenigsten Stimmen erhält, ist aus dem Rennen. Das wird so lange wiederholt, bis am Ende nur noch zwei Bewerber übrig bleiben. Über die verbleibenden Kandidaten entscheiden die Mitglieder der Konservativen Partei per Briefwahl. Der Sieger oder die Siegerin wird neuer Parteichef bzw. neue Parteichefin.

May probierte es mehrfach

Die Wahl für die May-Nachfolge wird auf jeden Fall entscheidend für den weiteren Brexit-Fahrplan sein. Die Noch-Premierministerin bedauerte in ihrer Rücktrittsankündigung, dass es ihr „nicht gelungen ist, den Brexit zu vollziehen“. Sie habe alles versucht, um eine Mehrheit im Parlament zu bekommen, doch das sei nicht gelungen. Es sei im besten Interesse des Landes, wenn ein anderer Premierminister Großbritannien aus der EU führe, so May in ihrer emotionalen Ansprache.

Emotionale Rede von May

Die britische Premierministerin Theresa May erklärte in einer emotionalen Rede den Fahrplan und die Gründe für ihren Rückzug – mit Tränen am Ende.

Die Briten und Britinnen hatten vor fast drei Jahren in einem Referendum mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt. Der EU-Austritt wurde bereits zweimal aufgeschoben und soll nun spätestens am 31. Oktober erfolgen, doch werden auch an diesem Termin Zweifel laut.

Vernichtende Kritik

Eigentlich wollte May den Zeitplan für ihren Rücktritt erst nach der Abstimmung über ihren Brexit-Gesetzesentwurf Anfang Juni vorlegen. Doch die Pläne waren im Parlament auf so viel Widerstand gestoßen, dass es wohl nicht mehr zu einem Votum darüber kommen wird. Die für Freitag geplante Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs wurde wieder abgesagt.

Das nun auf Eis gelegte Gesetzgebungsverfahren gilt als letzte Chance, das mit Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen Mays noch zu retten, das das britische Unterhaus bereits dreimal abgelehnt hat. Die Premierministerin hatte dazu Zugeständnisse an Brexit-Hardliner in ihrer Konservativen Partei und an die Opposition angekündigt. Auch eine Abstimmung, ob der Deal den Briten in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt werden soll, war geplant.

May hatte den Vorstoß, den sie als „groß und kühn“ und als „neuen Brexit-Deal“ bezeichnete, noch am Mittwoch im Parlament verteidigt. Die Reaktionen darauf waren jedoch vernichtend gewesen. Sowohl aus den Reihen ihrer Torys als auch aus der Opposition hagelte es Kritik und Rücktrittsforderungen.

Corbyn fordert Neuwahl

Die EU-Kommission machte nach der May-Ankündigung klar, dass sich die Position der EU zum Brexit nicht verändert hat. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker würdigte May als „Frau von Mut“. Er wolle weiter mit ihr in Kontakt bleiben, sagte eine Kommissionssprecherin in Brüssel. Irland rechnet indes nicht damit, dass die EU einem neuen britischen Premierminister einen besseren Brexit-Deal anbieten wird als May, wie der irische Außenminister Simon Coveney am Freitag sagte.

ORF-Korrespondentin Pöcksteiner aus London

Eva Pöcksteiner berichtet, warum May ausgerechnet jetzt den Fahrplan für ihren Rücktritt verkündet hat.

Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn forderte eine Neuwahl. Weder May noch ihre gespaltene Partei seien in der Lage, das Land zu regieren, sagte der Labour-Chef. Mays Entscheidung zurückzutreten sei richtig. „Wer auch immer der neue Chef der Konservativen wird, muss das Volk über die Zukunft unseres Landes entscheiden lassen, und zwar über eine rasche Parlamentswahl.“ Nigel Farage, Europaabgeordneter der Brexit-Partei und eine der treibenden Kräfte hinter dem Brexit-Referendum, warf May Fehleinschätzung vor.