Frau mit EU-Flagge im Gesicht
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Europaparlament

Bunt und zerfranst wie nie zuvor

Die EU-Wahl ist geschlagen, der Kontinent hat ein neues Parlament. Dieses ist bunt und fragmentiert wie noch nie. Konservative und Sozialdemokraten wurden am Sonntag stark geschwächt, die Grünen profitieren von der Klimakrise, und die Rechte hat Siege mit Signalwirkung eingefahren. Viele Fragen sind offen, eines steht fest: Das Regieren wird zweifelsohne (noch) komplizierter.

40 Jahre herrschten im EU-Parlament eindeutige Machtverhältnisse, seit Sonntag ist damit Schluss: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben die konservative Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D) im EU-Parlament keine Mehrheit mehr. Beide Fraktionen mussten herbe Verluste hinnehmen, sie sind die großen Verlierer des Abends. Die Konservativen büßen aus aktueller Sicht rund 36 Mandate ein und kommen auf 180 Sitze. Noch größer fällt die Niederlage bei den Sozialdemokraten aus: Sie stürzen auf 146 Mandate ab, verlieren damit 39 Sitze.

Das bedeutet: Im Europaparlament wird man künftig wohl noch viel mehr flexible Allianzen schmieden müssen. Die großen Machtblöcke im Zentrum werden auf Partner angewiesen sein, die sich selbst deutlich klarer ausrichten – sei es mit Fokus auf den Klima- und Umweltschutz, EU-Skepsis und Nationalismus oder Liberalismus. Dazu kommt, dass nationale Besonderheiten und Befindlichkeiten die Debatten in Zukunft wohl noch stärker prägen werden. Noch nie gab es in der europäischen Gesamtschau so fragmentierte Machtverhältnisse wie heute.

Grafik zu Sitzverteilung im EU-Parlament
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU-Parlament

Rechtspopulisten: Gekommen, um zu bleiben

Der große Rechtsruck ist indes – wohl auch aufgrund der relativ hohen Wahlbeteiligung von 50,5 Prozent – ausgeblieben. Auch eine von Ex-Trump-Berater Steve Bannon geeinte europäische Rechte ist an der Realität zerschellt. Allerdings konnten die EU-skeptischen und rechten Bewegungen ihren Status erfolgreich zementieren und vor allem auch Erfolge mit Signalwirkung einfahren: In Frankreich verlor Marine Le Pens Rassemblement National (RN) gegenüber 2014 zwar Stimmen, mit 23 Prozent landete sie aber trotzdem vor Emmanuel Macrons Regierungspartei (En Marche).

Marine Le Pen
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Marine Le Pen und ihre Partei konnten wohl von Frankreichs innenpolitischer Krise profitieren – Stichwort „Gelbwesten“

In Italien kam Matteo Salvinis Lega mit rund 33 Prozent auf den ersten Platz, sein Anspruch als Führungsfigur in Europas rechtem Spektrum wurde damit bestätigt. Die Brexit-Partei von Nigel Farage wurde in Großbritannien stärkste Partei und erhielt etwa 33 Prozent der Stimmen.

Auch in den mittelosteuropäischen Staaten Ungarn und Polen gehen die EU-skeptischen Regierungsparteien gestärkt aus den EU-Wahlen hervor. Viktor Orban und seine FIDESZ erlangten 52 Prozent der Stimmen. In Polen bekam die regierende PiS (Recht und Gerechtigkeit) 45 Prozent.

Laut den vorläufigen Auszählungen erreichten die bisher drei rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen zusammen 171 Sitze, also 16 mehr als bisher. Der Zugewinn hält sich damit zwar in Grenzen, doch im Parlamentsalltag, bei der Themensetzung und Personalauswahl wird die durch die Wahl gefestigte Rechte zweifelsohne eine erhebliche Rolle spielen. Das ändert allerdings nichts daran, dass es immer noch fundamentale Unterschiede zwischen den Parteien gibt.

Grün als Sache des Westens

Euphorie herrscht bei den Grünen. In Deutschland landeten sie mit 20,7 Prozent noch vor der SPD auf Platz zwei, in Hamburg und Berlin waren sie sogar Wahlsieger. Angesichts der Klimakrise konnte man vor allem bei den Jungen punkten. Auch in Großbritannien und Frankreich wurde am Sonntag eine „grüne Welle“ ausgerufen. Und in Österreich konnten die von Misserfolgen geplagten Grünen ihr Ergebnis von 2014 nahezu halten.

Ska Keller und Bas Eickhout
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Grüne Doppelspitze im Glück: Ska Keller und Bas Eickhout

Der Erfolg kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass grüne Parteien eine westeuropäische Angelegenheit sind. Bis auf zwei Mandatare aus Litauen und einen Mandatar aus Lettland kommen alle grünen Abgeordnenten aus west- oder nordeuropäischen Staaten. In den mittel-, süd- und osteuropäischen Staaten, auf dem Balkan, aber auch in Italien spielen die Grünen nach wie vor keine Rolle. Und dazu kommt die Wahlschlappe in Schweden: Just im Heimatland der jungen Klimaaktivistin Greta Thunberg fuhren die Grünen eine herbe Niederlage ein.

Liberale Königsmacher

Den Liberalen dürfte unterdessen künftig vielfach die angenehme Rolle des Königsmachers zufallen. Dank der Allianz mit Emmanuel Macrons Bewegung La Republique en Marche konnte die ALDE ihr politisches Gewicht erheblich erhöhen. Die Fraktion konnte sich 108 von 751 Mandaten sichern. Die Liberalen werden im Brüsseler Machtgefüge nicht nur aufgrund ihrer relativen, inhaltlichen Flexibilität eine große Rolle spielen. Ihr Gewicht wächst auch durch den Umstand, dass in der europäischen Gesamtschau zahlreiche Staats- und Regierungschefs aus liberalen Parteien kommen.

Margrethe Vestager
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Margrethe Vestager – eine mögliche Kompromisskandidatin für die Kommission?

Das könnte relativ bald zum Tragen kommen, denn in den nächsten Wochen wird es um die Besetzung der Topjobs in Brüssel gehen. Das Rennen um das Amt des Kommissionspräsidenten wurde längst eröffnet. Als Chef der stärksten Fraktion beansprucht EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) den Posten für sich. Aber auch der sozialdemokratische Kandidat Frans Timmermans will das Amt nach wie vor. Er hat am Sonntag direkt nach der Wahl Gespräche über eine linke, progressive Plattform angekündigt, die ihn zum Chef machen könnte.

Grafik zur Wahlbeteiligung EU-weit
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: TNS/Scytl/Europaparlament

Und dann gibt es da eben noch die Liberalen mit der Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager an der Spitze, die in Brüssel bereits lange als Geheimfavoritin für das Amt gehandelt wird. Am Sonntag verkündete sie zum ersten Mal öffentlich, dass auch sie Ambitionen auf das Amt hege. In Anspielung auf ihre Rolle als Wettbewerbskommissarin und das schlechte Abschneiden der einstigen Großparteien sagte sie am Sonntag: Ihr Job sei „das Brechen von Monopolen“, und das „Monopol der Macht ist gebrochen“ – eine Kampfansage.

Stärkere Ränder, aber breite Mehrheit im Zentrum

In der ZIB2 analysiert Daniel Gros von der Brüsseler Denkfabrik CEPS die Ergebnisse der Europawahl.

Der Dienstag dürfte in der Frage nach den Spitzenkandidaten mehr Klarheit bringen, denn dann treffen sich die Staats- und Regierungschefs zu einem „Ämtergipfel“ in Brüssel. Letzten Endes schlagen sie vor, wer der nächste Kommissionschef werden soll.