Margrethe Vestager
APA/AFP/John Thys
EU-Sondergipfel

Liberale Vestager will an Kommissionsspitze

Nach dem historischen Verlust der Mehrheit der Konservativen und Sozialdemokraten bei der EU-Wahl stellt sich die Frage, wer die EU künftig führen soll. Vor dem EU-Sondergipfel am Dienstag brachten sich die Liberalen, welche die meisten Mandate dazugewinnen konnten, in Stellung. Die Chancen, dass die dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager die erste Kommissionspräsidentin werden könnte, stehen nicht schlecht.

„Das Machtmonopol ist aufgebrochen“, sagte Vestager nach dem Wahlerfolg der Liberalen (ALDE) in Brüssel. Die Wahl sei „ein Signal für den Wandel“. So deutlich war die Wettbewerbskommissarin, die Teil des Spitzenteams der ALDE-Fraktion, jedoch keine Spitzenkandidatin war, bis dahin nicht. Gemeinsam mit der Partei von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron konnten sie vorläufigen Ergebnissen zufolge im Vergleich zu 2014 immerhin 40 Mandate zulegen – und somit mehr als jede andere Fraktion. Mit 109 Sitzen liegt ALDE, der auch NEOS angehört, auf dem dritten Platz hinter der EVP (180 Mandate) und der S&D (145 Mandate).

Nach dem Spitzenkandidatensystem hätte eigentlich EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber Führungsanspruch. Doch der zeigte sich ob des Verlusts von fast einem Fünftel der Mandate offen für „Beiträge“ der anderen Fraktionen – auch in der Personalfrage. Ähnlich äußerte sich der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans, dessen Fraktion ebenso ein Fünftel der Mandate verlor.

Margrethe Vestager, Frans Timmermans und Manfred Weber
Reuters/Francois Walschaerts
Vestager, Timmermans und Weber gelten als Favoriten für den Posten des Kommissionspräsidenten

Widerstand gegen Automatismus bei der Personalfrage kam zudem von einigen Staats- und Regierungschefs – allen voran Macron. Sie werden Dienstagabend nach dem Treffen der Fraktionschefs am Vormittag zusammenkommen, um mit der Auswahl des oder der neuen EU-Kommissionspräsidentin zu beginnen. Bei dem Treffen dürfte es schon erste Hinweise darauf geben, wer eine Chance hat, an die Spitze der mächtigen EU-Behörde zu rücken. Es wird aber mit einem wochenlangen Streit gerechnet. Für Österreich wird Vizekanzler und Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) an dem Treffen teilnehmen.

Politologin: Vestager ist „Kompromisskandidatin“

Die Chancen, dass nicht Weber, sondern Vestager an der Spitze der EU-Kommission stehen könnte, seien „in meinen Augen gar nicht schlecht“, so die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle gegenüber ORF.at. Bereits am Montagabend wollte Weber mit Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen zusammentreffen, um über ein künftiges Bündnis im Parlament zu sprechen – was kurzfristig abgesagt wurde. Im Falle einer Viererkoalition könnte man den Liberalen ein personelles Angebot machen und den Grünen ein inhaltliches mit einer aktiveren Klimapolitik, so Stainer-Hämmerle weiter.

Grafik zu Sitzverteilung im EU-Parlament
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU-Parlament

Für die Pastorentochter, die sich gegen Steuervermeidung großer Konzerne und Marktmissbrauch stellt und die für eine „progressive Koalition“ ist, spräche einerseits, dass sie die erste Frau in dem Amt wäre, sagte die Politologin zu ORF.at. „Das wäre symbolträchtig.“ Überdies hätten Weber und andere versprochen, die EU-Kommission zur Hälfte mit Frauen besetzen zu wollen. „Wieso also nicht gleich die Präsidentin?“, so Stainer-Hämmerle.

Dazu komme, dass die Dänin eine Kompromisskandidatin sei, auf die sich alle einigen können, „weil sich die EVP und die Sozialdemokraten gegenseitig wahrscheinlich weniger gönnen als den Liberalen“. Ein Wegbrechen der 16 Mandate der britischen Liberalen nach dem geplanten EU-Austritt der Briten im Herbst würde die ALDE-Fraktion laut Stainer-Hämmerle aber in keine schlechtere Verhandlungsposition bringen.

Experte: „Weber auf Merkel angewiesen“

Damit Weber überhaupt eine Chance habe, brauche er auf jeden Fall viel Unterstützung der deutschen Kanzlerin, meint EU-Experte Janis Emmanouilidis. „Wir müssen Angela Merkel in den nächsten Tagen genau zuhören“, so Emmanouilidis. Doch selbst wenn weder Weber noch Timmermans zum Zug kommen, sieht Emmanouilidis das Spitzenkandidatensystem per se nicht in Frage gestellt. Es werde bleiben, müsse aber adaptiert werden – eventuell durch die Einführung transnationaler Listen.

Für das Amt des Kommissionspräsidenten bzw. einer Kommissionspräsidentin ist eine 72-Prozent-Mehrheit im Kreis der Staats- und Regierungsspitzen nötig. Im Europaparlament muss die Person dann mit der Mehrheit der Mandate bestätigt werden. Dort ginge es rechnerisch auch ohne Macron und die Liberalen. EVP, Sozialdemokraten und Grüne kämen auf genug Stimmen, um einen Kommissionspräsidenten zu küren.

Stärkere Ränder, aber breite Mehrheit im Zentrum

In der ZIB2 analysiert Daniel Gros von der Brüsseler Denkfabrik CEPS die Ergebnisse der Europawahl.

Die größte Herausforderung für diese breite Allianz sieht der Experte nicht in inhaltlichen Differenzen, sondern in puncto Postenaufteilung: „Der schwierigste Teil ist das ‚Leadership-Puzzle‘.“ Denn neben dem Posten des Kommissionschefs sind auch die Präsidenten für den Europäischen Rat (derzeit Donald Tusk) und das EU-Parlament (derzeit Antonio Tajani) sowie die Führung der Europäischen Zentralbank (derzeit Mario Draghi) und die Stelle des EU-Außenbeauftragten (derzeit Federica Mogherini) neu zu besetzen.

Großparteien haben „Bindungskraft stark verloren“

Als Grund für den Erfolg der ALDE-Fraktion bei der EU-Wahl – unter anderem in Frankreich, Dänemark, Estland, Tschechien und den Niederlanden – und den Misserfolg der Großfraktionen sieht Stainer-Hämmerle vor allem die Enttäuschung über die traditionellen Mitte-Parteien. Diese hätten ihre „Bindungskraft ganz stark verloren“. Vorteil der Liberalen sei zudem, dass sie als oppositionelle Fraktion im Europäischen Parlament nicht so sehr die Schuld des Versagens in den großen Fragen treffen würde.

„Ich kann meinen Missmut und die Unzufriedenheit mit dem bisherigen Kurs zum Ausdruck bringen, muss aber nicht die Rechten wählen oder die Grünen, die eventuell zu gesellschaftskritisch waren“, erklärt die Expertin. Allerdings seien die Parteien der Liberalen schlecht vergleichbar. So reicht die Bandbreite der ALDE-Fraktion von Wirtschaftsliberalen bis hin zu Gesellschaftsliberalen. Und: Wenn sich Macron – der einst Sozialdemokrat war – mit den Sozialdemokraten selbstständig gemacht hätte, dann wäre das Bild der Expertin zufolge auch ein anderes.

Auch Grüne verbuchten starke Zuwächse

Starke Zuwächse verbuchten auch die Grünen. Sie gewannen 17 Sitze dazu und kommen damit auf 69 der 751 Sitze im EU-Parlament. Dabei stellten die Grünen – die vor allem bei jungen Wählern erfolgreich waren – sofort inhaltliche Forderungen, vor allem ein klares Programm für mehr Klimaschutz und ein sozialeres Europa. Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold machte im Bayerischen Rundfunk klar, dass Weber noch nicht als künftiger Kommissionschef feststeht.

Die Linke verliert 13 Sitze und kommt auf 39. Die bisher drei rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen kommen zusammen auf 171 Sitze, 16 mehr als bisher. Die Erfolge der EU-kritischen Parteien in einzelnen Ländern sind aber unterschiedlich.