EU-Parlament in Brüssel
ORF.at/Saskia Etschmaier
Vor Sondergipfel

Kampfansage der EU-Fraktionen

Noch vor dem EU-Sondergipfel am Dienstagabend sind am Vormittag die Vorsitzenden der Parlamentsfraktionen zusammengetroffen, um über eine gemeinsame Linie für die EU-Kommission zu beraten. Die Fraktionen wollen darauf bestehen, nur einen der Spitzenkandidaten der Europawahl zum Kommissionspräsidenten zu wählen – und stellen sich damit gegen die Position des Europäischen Rats.

Wie EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani am Dienstag nach Beratungen mit den Fraktionsvorsitzenden sagte, unterstützt eine Mehrheit der Parteien diese Forderung. „Die Mehrheit der Fraktionen ist für einen Spitzenkandidaten“, sagte Tajani. Er werde diese Position auf dem EU-Gipfel am Abend vertreten. Es müsse eine „transparente, demokratische Debatte“ über die nächste EU-Kommission geben, so Tajani.

EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber von der deutschen CSU ist der Spitze der EU-Kommission damit einen Schritt näher. Die Einigung der Fraktionsspitzen in einer Runde bei Tajani ist vor allem auch eine Ansage an die EU-Staats- und -Regierungschefs kurz vor dem EU-Sondergipfel am Abend. Denn dort gibt es Widerstand dagegen, dass nur einer der Spitzenkandidaten Kommissionspräsident werden kann. Nach der Europawahl mit hoher Wahlbeteiligung fühlt sich das Parlament jedoch in seiner Position gestärkt.

„Versucht es erst gar nicht“

Damit wird der Konflikt zwischen den EU-Institutionen wohl noch einmal angefacht. „Die Mehrheit hat klargemacht, dass an dem Spitzenkandidatenprozess als Orientierungspunkt nichts vorbeigeht“, sagte der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Udo Bullmann. Das sei „ein klares Signal an den Europäischen Rat: Versucht es erst gar nicht!“

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und andere EU-Staats- und -Regierungschefs fühlen sich an das Prinzip der Spitzenkandidaten nicht gebunden und wollen den Kommissionschef frei auswählen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die laut der „Süddeutschen Zeitung“ selbst „nicht viel vom Spitzenkandidatenprinzip hält“, unterstützt hingegen den EVP-Kandidaten Weber.

EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber
AP/Francisco Seco
EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber wird durch die Entscheidung der Fraktionschefs gestärkt

Auch Vestager im Gespräch

Weber zeigte sich unmittelbar nach der Wahl ob des Verlusts von fast einem Fünftel der Mandate offen für „Beiträge“ der anderen Fraktionen – auch in der Personalfrage. Ähnlich äußerte sich der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans, dessen Fraktion ebenso ein Fünftel der Mandate verlor. Neben Weber und Timmermans war zuletzt auch die Liberale Margrethe Vestager für den Spitzenposten im Gespräch.

Die Grünen im Europaparlament sehen die bisherige EU-Wettbewerbskommissarin Vestager auch nach dem Entschluss der Fraktionen im Rennen um die Nachfolge an der Spitze der EU-Kommission. Vestager sei aus Sicht der Grünen als „Spitzenkandidatin“ bei der Europawahl aufgetreten, sagte die grüne Kofraktionsvorsitzende im Europaparlament, Ska Keller. Die Liberalen hatten für die Europawahl anders als die meisten anderen Parteien keinen Spitzenkandidaten aufgestellt. Es gab bei den Liberalen allerdings ein „Spitzenteam“, zu dem auch Vestager zählte.

Zwei Mehrheiten für neue EU-Spitze nötig

Für die Nachfolge des bisherigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker sind gleich zwei Mehrheiten notwendig: Zuerst muss der Kandidat oder die Kandidatin mit einer Mehrheit von 72 Prozent im Kreis der Staats- und Regierungsspitzen vorgeschlagen werden. Das EU-Parlament muss laut Artikel 17 des EU-Vertrags dann noch „mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ dafür stimmen. Das sind bei 751 Abgeordneten mindestens 376 Abgeordnete.

Angesichts des Ausgangs der EU-Wahl am Sonntag ist diese Mehrheit im Parlament jedoch nicht leicht herzustellen. Hatten die konservative EVP und die sozialdemokratische S&D 2014 gemeinsam noch 412 Sitze (bis zur Wahl am Sonntag waren es noch 403), konnten sie diesmal gemeinsam nur 326 Sitze erreichen – 50 zu wenig für eine Mehrheit im Parlament.

Grafik zu Sitzverteilung im EU-Parlament
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU-Parlament

Möglicher langer Weg bis zur Nominierung

Dass die neue EU-Kommission ihre Arbeit fristgerecht am 1. November aufnehmen kann, gilt zu diesem Zeitpunkt noch alles andere als gesichert. So zweifelt etwa der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger am Zeitplan: „Es kann sehr gut sein, dass die neue Kommission am 1. November noch nicht steht und dass die alte deshalb länger im Amt bleibt“, sagte er am Dienstag dem deutschen „Handelsblatt“.

Nächste Station ist nun der Sondergipfel am Abend, bei dem die EU-Staats- und -Regierungschefs über den Ausgang der Europawahl und die Nachfolge von Juncker beraten werden. Eine Einigung auf einen Namen ist noch nicht zu erwarten, am Nachmittag bremste auch Macron: „Ich will nicht, dass man heute über Namen spricht.“ Vielleicht gibt es diese aber bis zum EU-Gipfel am 20. und 21. Juni. 2014 einigte man sich im Juli nach heftigen Debatten auf Juncker, er konnte damit rechtzeitig zum 1. November sein Amt antreten.