Der Amerikanische Poet Walt Whitman
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Walt Whitman

Der Dichter der Demokratie

Vor genau 200 Jahren ist Walt Whitman im US-Bundesstaat New York auf die Welt gekommen. Noch heute gilt der Dichter als Erneuerer der amerikanischen Literatur, als Besinger der Demokratie und mit seinem Hauptwerk „Leaves of Grass“ (erstmals 1855) als Lyriker von Weltrang.

Sein Zeitgenosse Ralph Waldo Emerson förderte ihn, der Beat-Poet Allen Ginsberg sah in ihm „unseren Propheten“, und für den einflussreichen Literaturwissenschaftler Harold Bloom ist er gar der Homer der Amerikaner. Whitman ist auch noch 200 Jahre nach seiner Geburt eine wesentliche Bezugsgröße für die amerikanische Literatur.

Woran das liegt? Wohl an der Vielfalt seiner Themen, bestimmt aber an seinem großen Gedichtband „Leaves of Grass“ („Grasblätter“ in der deutschen Gesamtübersetzung von Jürgen Brocan) der 1855 erstmals anonym erschien. Damals war es ein schmales Bändchen mit zwölf Gedichten und einer winzigen, selbst finanzierten Auflage. Bis zu seinem Lebensende erweiterte Withman die Sammlung und konzipierte die Anordnung immer wieder neu. Die „Leaves of Grass“ wurden so zu einer poetischen Chronik der jungen USA nach dem Bürgerkrieg und wuchsen bis zum Tod Whitmans am 26. März 1892 auf knapp 400 Gedichte an.

Demokratischer Anspruch auch im Stil

Bereits im Vorwort der Erstausgabe traf der damals 37-jährige Whitman bei seinen Zeitgenossen einen Nerv, indem er die Amerikaner unter allen „Nationen und Zeiten“ als jene mit der „poetischsten Natur“ heraushob. Amerika selbst war für ihn „das größte Gedicht“, und das nicht wegen der Regierenden oder Eliten, seines Reichtums oder seiner Modernität, sondern wegen seiner „gewöhnlichen Menschen“, für die er schrieb und von denen er gelesen werden wollte. Er war durch und durch Demokrat. In „One’s-Self I Sing“ („Das Selbst sing ich“) dem berühmten Eröffnungsgedicht der „Leaves of Grass“ heißt es programmatisch „Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson, / Doch spreche das Wort demokratisch, das Wort en-masse.“

Der Amerikanische Poet Walt Whitman
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Mit den „Leaves of Grass“ traf Whitman den Nerv vieler seiner Zeitgenossen

Als zweites von neun Kindern in eine Quäkerfamilie geboren, schloss er seine formale Bildung im Alter von elf Jahren ab und arbeitete als Schriftsetzer, später als Journalist, Lehrer und Regierungsbeamter. Den demokratischen Anspruch setzten seine Gedichte sowohl stilistisch als auch inhaltlich um. In den „Leaves of Grass“ benutzt er freie Verse und versucht den Gegensatz von Prosa und Lyrik einzuebnen. Genauso war er unter den ersten Dichtern, die alle möglichen sprachlichen Register bis hin zum Slang in seinen Gedichten verwendeten. Und schließlich darf in seinen Gedichten alles unterschiedslos nebeneinander bestehen.

So bildet etwa „Our Old Feuillage“ („Amerikanisches Blattwerk“) einen seitenlangen Katalog, in dem Whitman versucht, die gesamten Vereinigten Staaten zu vermessen. Von „Floridas grüne[n] Halbinseln“ über „Prärien, Weiden, Wälder, große Städte, Reisende, Kanada“ bis zu der „filzenden Schwalbe“ und „Männer, Frauen, Immigranten, Bündnisse, die Vielzahl, die Individualität der Staaten“ versuchte der Dichter die gesamte Wirklichkeit zu zeigen und zu besingen. Am deutlichsten wurde dieser demokratische und allumfassende Anspruch Whitmans in „A Song of Joy“ („Ein Gesang der Freuden“): „O die Freude meines Geistes – sie ist gitterlos – sie schießt dahin wie Blitze! / Es ist nicht genug, diese Erdkugel zu haben und eine Spanne der Zeit, / Ich will Tausende Erdkugeln haben und alle Zeit.“

„Oh Captain, my Captain!“

Weitere Themen dieses monumentalen Gedichtzyklus orientieren sich an der Geschichte der USA während der nahezu 40 Jahre zwischen der Erstveröffentlichung und Whitmans Tod. Der Sezessionskrieg, an dem Walt Whitman kurzzeitig als freiwilliger Krankenpfleger in einem Lazarett teilnahm, inspirierte eine Vielzahl von Kriegsgedichten.

Das wohl berühmteste Gedicht Whitmans ist „Oh Captain, my Captain!“ („O Käpt’n! Mein Käpt’n!), das Abraham Lincoln gewidmet ist. Der 16. Präsident der USA wurde am 14. April 1865 während eines Theaterbesuchs vom Schauspieler John Wilkes Booth erschossen. Das Attentat erschütterte Whitman, der Lincoln ein sprachliches Denkmal setzte: „Nach schlimmer Fahrt läuft ein der Sieger mit erstrittnem Preise; / Ihr Ufer, jubelt, klingt, ihr Glocken! / Doch ich in Schmerz und Not, / Ich bin an Deck, da liegt mein Käpt’n, / Gefallen, kalt und tot.“

Mehr als Männerfreundschaften?

Unter den vielen Gedichten mit erotischem Unterton, die Whitman verfasste, haben jene, die Männer zum Objekt der Begierde erklären, öfter Interpreten dazu veranlasst, dem Dichter bisexuelle Neigungen zu attestieren. Alle diese Spekulationen basieren hauptsächlich auf der Lektüre der Gedichte. Niemand weiß, was Whitman mit Zeilen wie dieser aus „Native Moments“ („Urmomente“) wirklich im Sinn hatte. „Ich bin für jene, die an lockere Vergnügungen glauben, ich teile die Mitternachtsorgien der jungen Männer.“ Whitman selbst verwehrte sich stets gegenüber Vorwürfen der „Obszönität“ und Homosexualität.

Zeichnung der Ermordung von Abraham Lincoln
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Dem ermordeten US-Präsidenten Lincoln widmete Whitman ein Gedicht, das sein berühmtestes werden sollte

Fest steht, dass sich Whitman eingehend mit Fragen des männlichen Körpers beschäftigte. Erst 2016 wurde entdeckt, dass eine 13 Artikel umfassende Serie in „The New York Atlas“, die 1858 unter dem Namen „Mose Velsor“ erschien und sich mit Fragen der Männergesundheit – von Sex bis zur Bartpflege und körperlicher Ertüchtigung – auseinandersetzte, aus Whitmans Feder stammte. Seine eigene Gesundheit machte dem „amerikanischen Homer“ jedoch bald zu schaffen. 1873 erlitt er einen Schlaganfall und sah sich gezwungen, sich in das Haus seines Bruders in Camden, New Jersey, zurückzuziehen, wo er in ärmlichen Verhältnissen lebte.

Whitmans Vermächtnis

Noch 200 Jahre nach seiner Geburt kann man Neues von Whitman entdecken. 2017 wurde bekannt, dass der 1852 anonym erschienene Fortsetzungsroman „Leben und Abenteuer von Jack Engle“ ebenfalls ein Werk Whitmans ist. Das Werk ist gerade in einer neuen Übersetzung von Brocan erschienen, der bereits die „Leaves of Grass“ auf Deutsch übertragen hat. Der Roman handelt vom Straßenjungen Jack Engle, der sich auf den Straßen New Yorks durchschlägt, bis er von einem mitfühlenden Ehepaar aufgenommen wird, das ihm eine Ausbildung und den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht. Dieser frühe Großstadtroman hat zwar nicht die Strahlkraft der Whitman’schen Gedichte, ist aber durch seine späte Entdeckung doch eine kleine Sensation.