EU-Übersetzer Ioannis Ikonomou
ORF.at/Saskia Etschmaier
EU-Übersetzer der Superlative

Der Mann, der 32 Sprachen spricht

Ioannis Ikonomou hat ein außergewöhnliches Talent: Der EU-Übersetzer beherrscht 32 Sprachen, tote nicht mitgezählt. Im Gespräch mit ORF.at erzählt er, wie Sprachen und die Liebe miteinander verknüpft sind, was ihn mit Wien verbindet und wie man am besten eine neue Sprache lernt – auf Deutsch, versteht sich.

An kaum einem Ort der Welt werden auf kleinem Raum so viele Sprachen gesprochen wie in Brüssel. Ikonomou kommt das gerade recht. Der Grieche ist einer der wenigen Polyglotten: Menschen, die eine Vielzahl an Sprachen beherrschen. Mit „etwa“ 32 Stück („Jemand hat das für mich gezählt, mir persönlich ist das wurscht“) ist aber auch Ikonomou ein Ausnahmetalent. Seine Kenntnisse reichen von Amharisch bis Urdu, dazu kommen noch viele tote Sprachen wie Sanskrit, Osmanisch, Altpersisch, Avestisch und Altkirchenslawisch.

Ikonomou beherrscht auch 21 der 24 EU-Amtssprachen – alle außer Maltesisch, Lettisch und Gälisch. Deswegen hat es ihn nach Brüssel verschlagen. Seit 1996 arbeitet er für die Europäische Union – erst als Dolmetscher, nun als Übersetzer. In seinem kleinen Büro in der Generaldirektion Übersetzung der EU-Kommission überträgt er seither allerlei Gesetzestexte und EU-Kommunikation, zudem übersetzt er Texte in Sprachen anderer Länder – etwa aus dem Chinesischen. „Das ist mein Beitrag zum europäischen Projekt“, so Ikonomou.

Von Chinesisch bis Türkisch

EU-Übersetzer Ikonomou spricht 32 Sprachen. Im Video gibt er eine kleine Demonstration seiner Kenntnisse.

Kindheitshobby: Sprachensammeln

Die Wurzel für Ikonomous außergewöhnliche Sprachenleidenschaft sei die Neugier gewesen. „Ich wuchs auf Kreta auf, einer sehr touristischen Insel“, erzählt er. „Die Urlauber sprachen, aber für mich war das nur ein Lärm.“ Und ein Rätsel, das Ikonomou lösen wollte. Den ersten Schritt dafür machte er, als er mit sechs Jahren begann, Englisch zu lernen: „Ich fing an, nach und nach einfache Sachen zu verstehen. Ich war so begeistert, das war eine Faszination, mein Gott.“

Ikonomou konnte es nicht dabei belassen – bei einer „Frau Rosi“ lernte er noch als Bub auf Kreta seine ersten Brocken Deutsch. Anschließend gab es kein Halten mehr: Im Laufe seiner Kindheit und Jugend in Athen eignete er sich Italienisch, Französisch, Russisch und Arabisch an. Auch bei Reisen in Griechenlands Nachbarstaaten stürzte er sich in neue Sprachwelten.

„Ich wollte keine Feinde haben“

Prägend werden Ausflüge in die Türkei: „Die Türken waren unsere traditionellen Feinde. Aber ich wollte keine Feinde haben.“ Und beim Reden kommen die Leute bekanntlich zusammen. Mit Sprachen Brücken bauen: Das wird Ikonomous Leitmotiv. „Sprachen bedeuten für mich nicht einfach: Grammatik, Wortschatz, unregelmäßige Verben auswendig lernen. Das auch, das ist wichtig. Aber die Sprache ist für mich Kommunikation. Eine Brücke zu anderen Menschen.“

Ikonomou wurde selbst zum Weltenbummler. Sein Studium – freilich Sprachwissenschaft – führten ihn erst nach Thessaloniki, dann an die US-Eliteuniversitäten Columbia und Harvard. Dort widmete er sich seiner „großen Liebe“: der Indogermanistik. Es ist diese Liebe, die ihn dann auch nach Wien brachte. Ikonomou ließ sich ein halbes Jahr von Harvard freistellen, um unter dem bereits verstorbenen österreichischen Sprachwissenschaftler und Indogermanisten Jochem Schindler zu studieren.

„Wien war die Stadt für mich“

Der Schmelztiegel der Bundeshauptstadt kommt ihm trotz anfänglicher Probleme mit dem Wienerischen entgegen: „Wien war die Stadt für mich.“ Die Atmosphäre habe ihn inspiriert und sei „bis heute bei mir geblieben. Dieses Offene, das Multikulturelle, die Geschichte.“ Nach wie vor pflege er gute Freundschaften nach Wien, müsse dabei aber auch negative Entwicklungen beobachten, etwa zunehmenden Fremdenhass. „Ich bin verliebt in die Stadt, in Österreich. Deswegen macht es mir Kummer, was hier heutzutage geschieht.“

„Am Anfang hatte ich ein Problem mit Wienerisch“

Ikonomou über seine Zeit in Wien.

Noch während seiner Zeit in Österreich machte ihm das Europäische Parlament ein Angebot, das er angesichts prekärer Berufsaussichten auch für die Besten seines Faches, nicht ablehnte. Die Entscheidung gegen eine akademische Karriere habe ihm schlaflose Nächte bereitet, sagt Ikonomou heute offen. Doch er sei zufrieden – dass er am europäischen Einigungsprojekt mitwirken könne, mache ihn froh.

Die EU-Sprachenvielfalt als „Schatz“

Nach sechs anstrengenden Jahren als Dolmetscher werkt er nun in der weltgrößten Übersetzungseinrichtung. „Ich übersetze eher langweilige Texte. Texte, die mit Gesetzgebung zu tun haben. Direktiven und so weiter. Aber trotzdem finde ich das faszinierend. Sie haben mit diesem großen Projekt zu tun, der Europäischen Union.“ Dieses sei seiner Meinung nach „die einzige Möglichkeit, als Europäer an einer Welt des Friedens zu bauen. Einer Welt, basierend auf Humanismus.“

„Ich glaube an das europäische Projekt“

Ikonomou über die Europäische Union.

Die Sprachenvielfalt der EU sei auch ihr Reichtum, sagt Ikonomou. Beim europäischen Projekt gehe es darum, „eine offene, humanistische Gesellschaft zu bauen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich von Leuten überall auf der Welt bereichern zu lassen“ – und der beste Weg dazu sei eine gemeinsame Sprache: „Unsere gemeinsame Sprache ist eben die Übersetzung.“ Mit seinen Kenntnissen liefere einen Beitrag: „Ein Bürger, eine Bürgerin kann in ihrer Sprache alles finden, was die EU an Gesetzgebung produziert. Das ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit.“

„Lamborghini der Übersetzung“

Allerdings ist die Übersetzung eine heikle Aufgabe, die besonders präzise vonstatten gehen muss. Ikonomou betont, dass es deswegen sehr strenge Regeln gibt – etwa ein Mehraugenprinzip: „Was ich übersetze, schicke ich nicht einfach so in die Publikation. Andere erfahrene Kollegen sehen meine Übersetzung an, oder ich sehe mir die Übersetzung anderer an.“

Das Personal werde durch strenge Auswahlverfahren selektiert und könne auf die besten Übersetzungsdatenbanken zugreifen. „Die Generaldirektion ist die größte Übersetzungsorganisation der Welt, aber vielleicht auch jene mit dem höchsten Niveau. Das ist der Rolls-Royce oder der Lamborghini der Übersetzung.“ Diese kosten jeden EU-Bürger übrigens laut Berechnungen der Kommission rund zwei Euro pro Jahr – den Preis für einen Kaffee.

Ikonomous Tipps: Liebe, Schweiß und Zeit

Und welche Tipps hat Ikonomou nun für ambitionierte Sprachenlerner parat? Heruntergebrochen braucht es laut dem Übersetzer vor allem eins: Liebe – aber auch Schweiß, Zeit und Disziplin. „Das Wichtigste ist, in die jeweilige Sprache verliebt zu sein. Sonst wird es ein Zwang“, so Ikonomou. Und zur Liebe gehört Neugier: „Wenn du in einen Mann oder eine Frau verliebt bist, dann willst du ihre oder seine Familie und seine Geschichte kennenlernen.“

„Ich wollte wissen, was die Leute denken“

Ikonomou über die Wurzel seiner Sprachleidenschaft.

Der Lernprozess ist für Ikonomou eine ganzheitliche Angelegenheit: „Die Sprache selbst ist ein toller Anfang, aber eben nur ein Anfang. Mein Mann ist Pole – durch ihn und seine Familie habe ich von der Geschichte und der Gegenwart Polens gelernt. Zum Beispiel, was für Serien der durchschnittliche Pole verfolgt, welche Lieder er oder sie hört, was er oder sie isst, wie man denkt, die nationalen Traumata, die Literatur.“ Die Kultur sei auch ein Schlüssel zur Sprache.

Nachrichten auf Türkisch, chatten mit Japan

Und heute sei das Studium leichter – und amüsanter – als je zuvor. Ein Mittel ist auch Popkultur: „Manchmal schaue ich mir eine Talkshow auf Russisch an. Oder die türkischen Nachrichten. Eine Komödie in Arabisch, Niederländisch.“ Die Technik sei dabei überaus hilfreich. Online sei er in Kontakt „mit Leuten aus Brasilien, China, Japan, überall. Und wir reden. Das ist toll. Das ist Teil meiner Routine.“

Ganze ohne harte Arbeit geht es dann aber auch nicht, sagt Ikonomou. Grammatiklernen und Wortschatzaufbau müssen sein. Und: „Disziplin ist wichtig.“ Er empfiehlt eine Stunde täglich, sechs oder sieben Tage die Woche: „Das ist der Schlüssel zum Erfolg.“ Ein nicht unerheblicher Zeitaufwand, der sich aber auszahlt: „Lernt Sprachen! Oder eine Sprache. Es bereichert euch“, so Ikonomou. Das lohne sich auch trotz Google Translate und Co. (noch). Denn für echte Freundschaften reicht der Übersetzungsdienst derzeit nicht.

Und die „schwierigste“ Sprache ist …

Auch unter Ikonomous vielen Sprachen gibt es eine, die ihn in besonderem Maße innerlich reicher gemacht hat: Chinesisch. „Ungarisch, so sagt man, ist die Sprache des Teufels. Daran glaube ich nicht. Es ist eine schwierige Sprache, aber so große Schwierigkeiten wie etwa Chinesisch hat mir das nicht bereitet.“ Denn: „Die Weise, wie man spricht, wie man denkt, ist im Chinesischen anders.“ Die Sprache sei „sehr verschieden von allen anderen Sprachen, die ich studiert habe“.

Das sei „eine große Anforderung. Deswegen würde ich sagen, dass ich Chinesisch am meisten liebe. Je größer die Herausforderung, desto mehr liebe ich die jeweilige Sprache. Und die größte Herausforderung bis jetzt war für mich Chinesisch.“ Dass es dabei bleibt, ist freilich noch nicht ausgemacht. Denn auch Ikonomou ist mit dem Lernen noch nicht fertig. Welche Sprache die nächste sein wird, ist aber noch nicht entschieden: „Ich hab keinen Plan. Denn, wenn es um die Sprachen geht, geht es um die Liebe – den ‚Eros‘, wie man es im Griechischen nennt. Und die kannst du nicht planen.“