Touristen machen Fotos von dem Tschernobyl-Reaktor
APA/AFP/Genya Savilov
„Respektlos“

Fototouristen stürmen Tschernobyl

Die Ruinen des Atomkraftwerks Tschernobyl sind drei Jahrzehnte nach der bisher schlimmsten Reaktorkatastrophe der Welt zu einem Touristenmagneten geworden. Ein Hauptgrund dafür dürfte eine aktuelle TV-Serie sein, in der sich Wahrheit und Fiktion etwas mischen. Fakt ist: Der Umgang der Besucher mit dem Ort und der Tragödie von 1986 liegt nicht nur Betroffenen im Magen.

Laut US- und britischen Medienberichten meldeten sich mittlerweile nicht nur frühere Arbeiter des Kernkraftwerks in der heutigen Ukraine, zum Zeitpunkt des Unglücks noch Sowjetrepublik, zu Wort, um die Dinge etwas zurechtzurücken. Auch der Autor der Blockbuster-Serie „Chernobyl“ mahnt Besucher zu Respekt.

Anlass sind Fotos, auf denen Touristinnen und Touristen laut dem britischen „Guardian“ auf denkbar unpassende Weise vor den Ruinen posieren, „respektlose“ und „unpassende“ Selfies inklusive, wie es in der britischen Zeitung am Mittwoch hieß. Die Bilder landeten dann auf Facebook und Instagram, einige seien nach Protesten mittlerweile wieder gelöscht worden. Eine Frau posierte in einem Schutzoverall, öffnete den dann, und ließ sich in einem Stringtanga fotografieren.

Der Autor der US-amerikanisch-britischen Miniserie des Senders HBO, Craig Mazin, schrieb auf Twitter, es sei erfreulich, dass „Chernobyl“ den Tourismus in Tschernobyl fördere, aber er vermisse Respekt. „Aber ja, ich habe die Bilder gesehen, die herumgereicht werden.“ Laut dem britischen Zeitungsbericht wird die „Verbotene Zone“ dort derzeit von Touristen geradezu überrannt.

Touristen machen Fotos von dem Tschernobyl-Reaktor
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„Woo hoo!“ Manche Besucher verewigen sich in der verlassenen Reaktorstadt

Wenn jemand Tschernobyl und die Reaktorruine besuche, dann „denken Sie bitte daran, dass dort eine furchtbare Katastrophe geschah“, so Maize. „Verhalten Sie sich respektvoll gegenüber allen, die gelitten und geopfert haben.“ Besucher müssen keine Schutzkleidung mehr tragen, werden aber beim Verlassen des Geländes auf Strahlenbelastung untersucht.

„Das perfekte Selfie“ vor der Kulisse des Horrors

Der „Guardian“ zitierte Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wonach das Reaktorunglück vom 26. April 1986 für mindestens 4.000 Todesopfer infolge der Strahlenbelastung und deren Folgen verantwortlich gewesen sei. Über 100.000 Menschen, die in der nahen Stadt Pripjat, erst wenige Jahre zuvor aus dem Boden gestampft, oder in einem Radius von 30 Kilometern lebten, mussten ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Ein großer Bereich des Unglücksorts ist immer noch Sperrzone.

Touristen machen Fotos von dem Tschernobyl-Reaktor
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Ein Foto vom Geigerzähler in der Hand zur Messung der Strahlung

Die Tschernobyl-Selfies haben längst eine Diskussion ausgelöst, die Ukraine ist damit aber nicht allein. Der „Guardian“ erinnerte an einen Appell der KZ-Gedenkstätte Auschwitz in Polen vom März, in dem Besucher gebeten wurden, sich daran zu erinnern, dass dort eine Million Menschen getötet wurden. „Respektieren Sie das Gedenken an sie.“ Anlass waren damals Fotos, auf denen Besucher auf den Schienen, auf denen einst die Züge in das Konzentrationslager rollten, balancierten. Es gebe „bessere Plätze“, um das Balancieren zu lernen, hieß es damals. Orte, die einst Schauplatz von Schrecken und Tragödie waren, dienten manchen heute als Kulisse für „das perfekte Selfie“, kommentierte der „Guardian“.

Wahrheit und Fiktion

Tschernobyl sei „plötzlich zum Touristen-Hotspot“ geworden, hieß es in einem Beitrag des US-TV-Senders CNN am Dienstag. Manche Touranbieter berichteten von einem 35- bis 40-prozentigen Plus bei den Buchungen. Die Serie lief von Anfang Mai bis Anfang Juni im britischen bzw. US-TV. Besucher dürfen seit 2011 in die Nähe der Ruine, aber nicht alleine. Pripjat und ein Aussichtsturm wenige hundert Meter von der Reaktorruine entfernt seien die beliebtesten Tourenziele.

Touristen machen Fotos von dem Tschernobyl-Reaktor
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US-britische Serie löste Touristenansturm auf Tschernobyl aus

In einem Artikel der BBC kommen Betroffene des Reaktorunglücks zu Wort, anfangen von einem früheren Ingenieur bis zu einem Feuerwehrmann. Laut dem früheren Techniker Oleksiy Breus gibt „Chernobyl“ die Tatsachen weitgehend realistisch wieder, vieles sei aber auch Fiktion. Die Katastrophe ereignete sich nach einer versuchsweisen Abschaltung der externen Stromversorgung, die für die Kühlsysteme notwendig war. Es kam zu einer unkontrollierten Leistungssteigerung, schließlich zu einer Explosion im Block 4 des 1978 in Betrieb genommenen AKW. Anschließend wurden große Mengen an Radioaktivität freigesetzt.