Paris bei Sonneruntergang
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Stadt-Land-Gefälle

Das geteilte Frankreich

Die „Gelbwesten“-Proteste haben in den französischen Medien ein bekanntes Thema zurückgebracht. Das der „territorialen Teilung“, also den starken Unterschied zwischen Metropolen und der Peripherie. Auch die Ergebnisse der EU-Wahl und die Frage, wo Marine Le Pen und wo Emmanuel Macron mit ihren Bewegungen gepunktet haben, konnten dieses Bild bestätigen. Doch die Idee der territorialen Teilung ist nicht unumstritten.

Nach der Europawahl am 26. Mai sind in den französischen Medien vertraute Karten der Wahlergebnisse aufgetaucht. Die Geografie der Wahl wies ein bekanntes Muster auf. Die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN, ehemals: Front National), die mit 23 Prozent auf nationaler Ebene auf Platz eins landete, hat in den kleinen und mittleren Städten sowie in den ländlichen Gegenden besonders stark gepunktet. Im Gegensatz dazu wurde die von Präsident Macron unterstützte Liste Renaissance mehr in den großen Städten und deren direkten Umgebung gewählt. Diese Beobachtung veranlasste am 1. Juni die Tageszeitung „Le Monde“ zum Titel: „EU-Wahl: Die territoriale Kluft vergrößert sich“.

Das Konzept der „territorialen Kluft“ hat sich in Frankreich in den letzten Jahren als beliebtes Analysemittel für politische und soziale Phänomene durchgesetzt – trotz anhaltender wissenschaftlicher Debatten, ob dieses Konzept auch den Überprüfungen standhält. Ursprünglich wurde der Terminus vom Geografen Christophe Guilluy geprägt, dessen Essay „Das periphere Frankreich“ bei der Veröffentlichung im Jahre 2014 viel Aufmerksamkeit bekam. Darin skizzierte er eine Trennung des Landes in zwei geografische Räume: Auf der einen Seite würden die 25 größten französischen städtischen Ballungszentren ein „Frankreich der Metropolen“ bilden. Diese dynamischen, multikulturellen Zonen, so seine These, profitierten am meisten von der Globalisierung.

Das Ergebnis der letzten EU-Wahl in Frankreich. Blau = Le Pen, Rot = Lager Macrons

Verlust der Kaufkraft

Auf der anderen Seite bestehe die Peripherie aus von den Produktionszentren weiter entfernten kleinen und mittelgroßen Städten und den ländlichen Gebieten. In diesen Gegenden würden 60 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 80 Prozent der sozial benachteiligten Gruppen wohnen, inklusive einer Mittelschicht, die in den letzten Jahren viel an Kaufkraft verloren habe. Diese Zonen seien nicht nur geografisch, sondern auch kulturell ausgegrenzt.

Die Arbeit von Guilluy hat der politisch-geografischen Debatte, die jahrelang auf die Banlieues, die Brennpunkte am Rand der Großstädte, ausgerichtet war, einen neuen Fokus gegeben. Auch in der Peripherie würden sich potenziell explosive Faktoren verdichten: eine hohe Verschuldung der Haushalte, mangelnde Arbeitsplätze, fehlende Mobilitätsangebote. Aber Schockbilder wie etwa brennende Autos, Symbolbilder für die teils verheerenden Verhältnisse in manchen Banlieues, kannte man aus der Peripherie nicht.

Die Verteilung des Lebensstandards in Frankreich. Je dünkler, desto höher.

„Gelbwesten“ als Aufstand der Peripherie

Aber im November letzten Jahres, als die Regierung eine Erhöhung des Spritpreises ankündigte, bauten plötzlich Tausende von Menschen Barrikaden auf Frankreichs Straßen. Kreisverkehre wurden wochenlang besetzt, und zwar nicht in den üblichen Brennpunktstadtteilen. Laut einer von „Le Monde“ zitierten Erhebung waren am 17. November 77 Prozent der 700 von „Gelbwesten“ „besetzten“ Ortschaften kleine Gemeinden (unter 20.000 Einwohnern). Städte, die mehr als 50.000 Einwohner aufweisen, waren hingegen nur zu acht Prozent betroffen.

In diesem Moment haben Guilluys Thesen Aufwind bekommen. Die breite, aber scheinbar heterogene Protestbewegung der „Gelbwesten“ wurde weitgehend als Aufstand der Peripherie interpretiert. Tatsächlich: Bei den vielfältigen Forderungen der Protestierenden spielte ein gebietsbezogenes Ungerechtigkeitsgefühl eine große Rolle: Man beklagte etwa den Mangel an öffentlichen Einrichtungen und Ärzten sowie einen nicht ausreichenden Ausbau des digitalen Netzes.

Wo leben die meisten Menschen in Frankreich? Eine Übersicht über die Bevölkerungsdichte.

Die komplexere Geografie

Aber als sich die Bewegung Woche für Woche fortsetzte – noch am 8. Juni protestierten nach offiziellen Angaben 10.300 Menschen in ganz Frankreich –, wurde das Konzept dieser vermeintlichen „Kluft“, die Frankreich teile, zunehmend infrage gestellt. So sah es etwa der Urbanismusforscher Eric Charmes als eine unzulässige Vereinfachung der wirtschaftlich und sozial vielfältigen Realitäten in den Regionen des Landes.

Schon in einem 2012 veröffentlichten Fachbuch „Die kommende Krise – die neue territoriale Kluft“ stellte der Spezialist für regionale Entwicklung Laurent Davezies eine Topografie auf, nach der Frankreich nicht aus zwei, sondern vier Zonen bestehe. Als Kriterien zog er nicht nur das regionale Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner heran, sondern auch einen regionalen Einkommensdurchschnitt und zeigte auf diese Weise, dass bestimmte periphere Gegenden (z. B. die Mittelmeer- und Atlantikküste) nicht schlechter gestellt seien als manche Metropolen. Außerdem stellte Davezies den ausgleichenden Effekt der französischen staatlichen Regionalausgaben dar, die die einwohnerarmen Regionen bevorzugen würden.

Ein Gefühl, das sich von der Politdebatte nährt

Das Gefühl der Franzosen in manchen Regionen, von der Politik im Stich gelassen zu werden, wäre also eine Illusion. In einem Kommentar im Wirtschaftsmagazin „Alternatives economiques“ vermuteten im November die Forscher Daniel Behar und Aurelien Delpirou und die Forscherin Helene Dang-Vu, es sei das Ergebnis eines öffentlichen Diskurses, der sich gerne gegen die „Eliten“ orientiere. Die Metropolen würden nun als deren Raum stilisiert werden.

Schon im Präsidentschaftswahlkampf 2012 behauptete etwa die Vorsitzende des RN (damals FN) Le Pen: „Der Staat hat das ländliche und das echte Frankreich im Stich gelassen.“ Tatsächlich werden seit 30 Jahren die öffentlichen Dienststellen auf dem Land schneller ausgedünnt als in den städtischen Ballungsräumen. Macron will nun bis 2022 noch 30 Milliarden Euro an staatlichen Ausgaben sparen. Da sich die Effekte davon vermutlich unterschiedlich in den verschiedenen Zonen Frankreichs auswirken werden, könnte sich die von Davezies 2012 prognostizierte territoriale Krise weiter zuspitzen, das aber nach komplexen regionalen Mustern und nicht nach einem vereinfachten Metropolen/Peripherie-Dualismus.