Zwei Teilnehmerinnen des Frauenstreiks in Lausanne
APA/AFP/Fabrice Coffrini
Frauenstreik in der Schweiz

Hunderttausende für Gleichberechtigung

Brennende BHs, eine riesige Klitoris und ein Kinderwagenumzug: Fast drei Jahrzehnte nach dem ersten nationalen Frauenstreik sind am Freitag Hunderttausende Frauen in der Schweiz für mehr Gleichberechtigung auf die Straße gegangen. Die Forderungen sind jedoch dieselben wie damals. Denn von Lohngleichheit etwa ist man auch 2019 noch weit entfernt.

In vielen Städten und Ortschaften organisierten Gewerkschafterinnen, Unternehmerinnen und Politikerinnen Märsche und Kundgebungen. Die Organisatoren sprachen von der „größten politischen Demonstration“ in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Hunderttausende Frauen hätten sich an dem Streik beteiligt, erklärte der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der zu den Protestaktionen aufgerufen hatte.

Allein in Bern beteiligten sich bis Mittag rund 10.000 Menschen an den Protesten. Auf dem Berner Bundesplatz verschafften sich die Frauen um 11.00 Uhr mit Pfannendeckeln, Hörnern, Pfeifen und Rasseln Gehör. Gegen Mittag legten die Demonstrierenden den Verkehr rund um den Züricher Hauptbahnhof zwischenzeitlich lahm. In Luzern kam es zu einem Sitzstreik. Wie das Schweizer Fernsehen berichtete, hatten bereits in der Nacht Frauen mit Pfannenkonzerten und Autokorsos den Streiktag eingeläutet. In Lausanne wurde in der Nacht ein „Freudenfeuer“ entzündet, in dem einige Frauen ihre BHs verbrannten.

Frauenstreik in Bern (Schweiz)
APA/AFP/Stefan Wermuth
Gleichstellung forderten auch Vertreterinnen der Berner Kulturhäuser

Frauen verdienen fast ein Fünftel weniger als Männer

Die Gleichberechtigung „in allen Rechts- und Lebensbereichen“ ist offiziell seit dem 14. Juni 1981 in der Schweizer Verfassung festgeschrieben – die Realität sieht aber nach wie vor anders aus: Frauen verdienen in der Schweiz im Durchschnitt 6.491 Franken (5.770 Euro) brutto im Monat – 18,3 Prozent weniger als Männer, wie das Bundesamt für Statistik 2016 errechnete. Selbst bei gleicher Qualifikation besteht nach Angaben des nationalen Statistikamts noch ein Abstand von acht Prozent. In der „Financial Times“ („FT“) heißt es dazu: „Eines der reichsten Länder der Welt bietet der Hälfte seiner Bevölkerung einen schlechten Deal.“

Paola Ferro ist eine der Organisatorinnen des Frauenstreiks. Ihre Gründe, warum sie auch diesmal wieder auf die Straße geht, sind ähnlich wie jene vor 28 Jahren. Zwar habe es mittlerweile Fortschritte gegeben, aber gerade was etwa die Pensionen der Frauen betreffe, gebe es noch einiges zu tun, sagte sie gegenüber der BBC. Frauenpensionen seien in der Schweiz im Durchschnitt um 37 Prozent niedriger als die von Männern. Zurückzuführen lässt sich das vor allem auf unbezahlte Familienarbeit – denn auch nach der Karenz arbeiten viele Frauen nur in Teilzeitverhältnissen.

Teilnehmerinnen des Frauenstreiks in Bern (Schweiz)
APA/AFP/Stefan Wermuth
Ausgerüstet mit Boxhandschuhen kämpft die Nationalrätin Margret Kiener Nellen aus Bern für Frauenrechte

Kinderwagenumzug und Klitoriswanderung

Doch die Lohndiskriminierung ist nicht der einzige Grund, warum Schweizerinnen am Freitag demonstrierten. Sie wollen Gleichberechtigung in Gesellschaft und Politik und sprechen sich gegen Sexismus, für mehr Respekt und null Toleranz bei sexueller Gewalt aus – Audio in oe1.ORF.at.

Die Forderungen reichen dabei von einer Senkung der Tamponsteuer über die Öffnung des Priestertums für alle bis hin zu mehr Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und einer gerechteren Verteilung von Haus- und Pflegearbeit. Eine weitere Forderung war eine generelle Verringerung der Arbeitszeit, damit bezahlte und unbezahlte Arbeit besser verteilt werden kann. Thema waren ebenso flexiblere Teilzeitarbeitsmodelle. Nach Ansicht der Gewerkschaften sollte es Abtreibungen und Empfängnisverhütung zum Nulltarif geben.

Frauenstreik in der Schweiz

In den großen Städten der Schweiz demonstrierten am Freitag mehr als 10.000 Frauen für mehr Gleichberechtigung, mehr Mitsprache in der Politik und gleichen Lohn für die gleiche Arbeit.

So unterschiedlich die Forderungen, so unterschiedlich waren auch die Aktionen. In der Früh wurde dem Parlament eine Petition mit 11.000 Unterschriften für eine geringere Besteuerung von Tampons überreicht. Die „Neue Züricher Zeitung“ („NZZ“) berichtete von einem Streikpicknick mit Bäuerinnen, einem Kinderwagenumzug, einer Aktion mit dem Titel „Menstruieren aufs Patriarchat“ und einer „Klitoriswanderung“. So zogen in Zürich Demonstrantinnen eine riesige rosafarbene Klitoris auf einem Karren durch die Stadt. In Basel wurde das feministische Symbol der geballten Faust auf den Wolkenkratzer des Pharmariesen Roche projiziert.

Frauenrechte: Sonderfall Schweiz

Schweiz ist was Frauenrechte betrifft ein Sonderfall in Europa. Als eines der letzten europäischen Länder führte es erst 1971 das Frauenstimm- und Wahlrecht ein – allerdings dauerte es noch weitere 20 Jahre, bis es in allen Kantonen und Gemeinden umgesetzt wurde. Zum Vergleich: In Österreich trat das Frauenwahlrecht bereits 1918 in Kraft.

Bis 1985 brauchten Schweizerinnen zudem die Erlaubnis ihres Ehemanns, um arbeiten zu gehen oder ein Bankkonto zu eröffnen. Und: Anspruch auf 14 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub gibt es erst seit 2005. Der eingeschränkte Zugang zu den teuren Kindertagesstätten gilt nach wie vor als Haupthindernis für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt.

Zudem „hält sich in der Schweiz noch heute hartnäckig ein konservatives Rollenbild“, meint Corinne Schärer, eine der Organisatorinnen des Frauenstreiks gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“). Thematisiert wird all das etwa auch im 2017 erschienen schweizerischen Filmdrama „Die göttliche Ordnung“.

Arbeitsniederlegungen ab 15.24 Uhr

Der Protest soll an den ersten nationalen Frauenstreik von 1991 anknüpfen. Dieser fand am 14. Juni statt – genau zehn Jahre nachdem die Gleichberechtigung in der Schweizer Verfassung aufgenommen worden war. Damals beteiligten sich rund 500.000 Schweizerinnen an den Protesten, die auf die mangelnde Umsetzung hinweisen sollten.

Schweizer Frauenstreik 1991 in Zürich
1991 fand in der Schweiz der erste große nationale Frauenstreik statt – die Forderungen sind auch heute noch die gleichen

Züricher Frauenstreikgruppen sagten gegenüber der „FT“ dass sie von Frauenstreiks, die in den vergangenen Monaten an verschiedenen Orten der Welt wie in Argentinien, Spanien, den USA und Polen inspiriert wurden. Während in Argentinien Grün die gewählte Streikfarbe ist, wurde in der Schweiz als Erkennungsfarbe Lila ausgerufen.

Seltene Schweizer Streiks

Arbeitsniederlegungen sind in der Schweiz extrem selten, seit Gewerkschaften und Arbeitgeber 1937 eine entsprechende Konvention unterzeichneten.

Die Organisatorinnen hatten die Schweizerinnen aufgefordert, Job und Hausarbeit einen Tag lang zu vernachlässigen, um das Bewusstsein für den wichtigen Beitrag, den Frauen für die Gesellschaft leisten, zu schärfen. Um 11.00 Uhr legten viele Frauen kurzzeitig die Arbeit nieder, auch die Sitzung des Nationalrats wurde unterbrochen.

Die Gewerkschaft hatte zudem dazu aufgerufen, um 15.24 Uhr in den Feierabend zu gehen – nach ihrer Rechnung arbeiten die Frauen ab dann, ohne dafür bezahlt zu werden. Doch auch Männer waren im Vorfeld aufgerufen, den Streik zu unterstützen, indem sie etwa die Arbeit der Frauen übernehmen oder an diesem Tag die Kinder betreuen, um Frauen das Streiken zu ermöglichen.

Vor dem Aktionstag gab es in der Schweiz wochenlange Diskussionen über die Situation der Frau. Unternehmerinnen hatten sich beschwert, dass die Gewerkschaften den Tag für sich in Anspruch nehmen wollten. Die konservative Wochenzeitung „Weltwoche“ argumentierte, Frauen gehe es bestens, schließlich brauchten sie nicht zum Militär. Eine Journalistin schrieb dort: „Statt frei will man heute Opfer sein.“ Die Verbraucherzeitschrift „Beobachter“ kam demonstrativ einmal als „Beobachterin“ heraus.