Rory Stewart (Torys)
AP/PA/Stefan Rousseau
May-Nachfolge

Außenseiter Stewart auf der Überholspur

Da waren’s nur noch fünf: In der zweiten Abstimmungsrunde der britischen Torys zur Nachfolge von Premierministerin Theresa May ist Ex-Brexit-Minister Dominic Raab ausgeschieden. Die meisten Stimmen der 313 konservativen Abgeordneten erhielt erneut der Favorit, Ex-Außenminister Boris Johnson. Weiter ist auch Entwicklungsminister Rory Stewart, der als Außenseiter ins Rennen gestartet war und nun – zumindest medial – einen Höhenflug erlebt.

Schon dass Stewart die erste Runde vergangene Woche überstand, galt als kleines Wunder. Mittlerweile werden ihm sogar Chancen eingeräumt, Johnson noch zu entzaubern – vielleicht ist das aber reines Wunschdenken von Kommentatoren, dass sich im reichlich aufgeheizten Rennen um den Posten des Parteichefs doch noch ein Funken Rationalität durchsetzt.

Bis dorthin ist es aber ein weiter Weg: Stewart erhielt 37 Stimmen, Johnson 126. Ebenfalls weiterhin mit dabei: Außenminister Jeremy Hunt mit 46 Stimmen, Umweltminister Michael Gove mit 41. Innenminister Sajid Javid schaffte es mit der Mindestzahl von 33 Unterstützungen haarscharf. Nun wird in weiteren Abstimmungen bis Donnerstag der jeweils stimmenschwächste Kandidat eliminiert. Die beiden Finalisten stellen sich dann Ende Juli allen 160.000 Tory-Parteimitgliedern zur Wahl – es sei denn, es ziehen, wie seinerzeit bei der Kür Mays, alle Gegenkandidaten zurück.

Boris Johnson (Torys)
Reuters/Henry Nicholls
Johnson ist weiterhin der Favorit

Einziger Kandidat gegen „No Deal“-Brexit

Stewart sticht tatsächlich aus dem Bewerberfeld heraus: Er will als einziger der Bewerber das Brexit-Abkommen nicht noch einmal nachverhandeln. Auch einen Brexit ohne Abkommen lehnt er als Einziger entschieden ab. Stattdessen plädiert er dafür, eine Bürgerversammlung mit der Ausarbeitung von Kompromissvorschlägen zu beauftragen, um den dreimal gescheiterten Deal doch noch durchs Parlament zu bekommen.

Seinen Konkurrenten wirft der 46-Jährige vor, unerfüllbare Versprechungen zu machen und „Märchen“ zu erzählen. So meint er, im Sommer könne gar kein neuer Austrittsvertrag mit der EU verhandelt werden, wie seine Konkurrenten das behaupten. Wer das verspreche, kenne sich bei der EU nicht aus.

Kandidatenrrunde der britischen Torys im TV-Studo
APA/AFP/Jeff Overs
Johnson, Hunt, Gowe, Jawid und Stewart (v. l. n. r.) bei der TV-Debatte

Stewart führte einen außergewöhnlichen Wahlkampf: Wochenlang reiste er durchs ganze Land und befragte Menschen nach ihrer Meinung zum Brexit und sozialpolitischen Themen. Seine Videos davon auf Twitter wurden zum Renner. Dass er das Momentum auf seiner Seite hat, zeigt auch die zweite Abstimmungsrunde: Er konnte im Vergleich zur ersten die meisten Stimmen dazugewinnen.

Karriere im Irak und in Afghanistan

Stewarts Biografie liest sich beeindruckend: Als Sohn eines Diplomaten in Hongkong geboren, besuchte er – wie viele britische Politiker – die Eliteschule Eton College und später die Oxford University. In Oxford unterrichtete er als Tutor die Prinzen Harry und William. Nach dem Studium begann er seine Arbeit im auswärtigen Dienst und diente unter anderem in Indonesien, in Osttimor und dem Kosovo.

2003 wurde er in den Irak geschickt, um im Chaos nach dem Sturz Saddam Hussein mitzuhelfen, Wahlen zu organisieren und Hilfsprojekte zu initiieren. Ab 2005 arbeitete er für eine humanitäre NGO in Afghanistan. Über die Erfahrungen in beiden Ländern schrieb er jeweils ein Buch. „The Places in Between“, das seinen Fußmarsch von der Stadt Herat nach Kabul schildert, wurde ein internationaler Bestseller.

Bis vor Kurzem unbekannt

Danach schlug Stewart zunächst eine akademische Karriere in den USA an der Harvard-Universität ein, ehe er 2010 erstmals in das Unterhaus einzog. Doch er blieb den meisten Britinnen und Briten auch weitgehend unbekannt, als er im Mai im Zuge der x-ten Kabinettsumbildung während des Brexit-Chaos von Premierministerin May zum Entwicklungsminister gemacht wurde.

Als er seine Kandidatur für die May-Nachfolge bekanntgab, wurde Stewart belächelt – dem ist nicht mehr so. Nachdem er die erste TV-Debatte der Kandidaten, an der Johnson allerdings nicht teilnahm, nach Meinung aller Beobachter klar für sich entschieden hatte, wurden Stewart plötzlich Chancen eingeräumt.

Kampf mit allen Mitteln

Und das bemerkten auch seine Gegner, die prompt mit Angriffen antworteten. Innenminister Javid unterstellte ihm, eigentlich gar nicht für den Brexit zu sein, sondern einen Verbleib der Briten in der EU zu befürworten. Tatsächlich galt Stewart früher als Remainer, fühlt sich mittlerweile an das Ergebnis des Referendums gebunden und spricht sich auch gegen eine zweite Abstimmung aus. Auch weitere Angriffe sind in ihrer kruden Logik zumindest beachtlich: Javid warnte davor, dass sich mit Stewart und Johnson zwei Kandidaten mit „ähnlichem Background“ – gemeint ist dieselbe Bildungskarriere in Eton und Oxford – im Finale gegenüberstehen könnten.

Umweltminister Gove wiederum warnte davor, dass die Parteibasis bei der Wahl „polarisiert“ werden könnte, wenn Stewart mit seiner eigenständigen Brexit-Linie in der Stichwahl stehe. Zudem machten Spekulationen die Runde, Stewart könnte in seiner Zeit im Ausland für den Geheimdienst MI6 gearbeitet haben – was er bereits mehrmals dementierte.

Schafft Stewart die große Überraschung?

In den Spekulationen britischer Medien spielt Stewart jetzt jedenfalls eine Rolle. Die großen Fragen lauten: Wer tritt gegen Johnson – er scheint gesetzt – an, und in welcher Reihenfolge scheiden die Konkurrenten aus? Die bisherigen Unterstützer des Hardliners Raab wird Stewart wohl nicht für sich gewinnen können, heißt es. Diese würden wohl hauptsächlich an Gove gehen. Sollte Javid als Nächster ausscheiden, sähe es schon besser aus.

Hunt lag zwar in beiden Abstimmungsrunden auf Platz zwei, er scheint aber zu schwächeln, heißt es in britischen Medien. Schlagzeilen machte er zuletzt eher mit Skurrilitäten, etwa einer Mahnung an Fernsehjournalisten seinen Namen korrekt auszusprechen und kein sich darauf reimendes ordinäres Schimpfwort. Allerdings setzte er sich selbst mit einem sprachlich recht ungeschickt formulierten Tweet in die Nesseln.

Wenig neue Erkenntnisse brachte eine TV-Debatte der fünf Kontrahenten in der BBC am Dienstagabend. Beobachter konnten diesmal keinen klaren Gewinner ausmachen – und auch neue Argumente oder schlüssige Antworten zum Brexit-Schlamassel blieben die fünf Männer schuldig. Johnson wollte sich nicht auf ein Brexit-Datum festlegen lassen. Auf die Frage eines Zuschauers, ob er garantieren könne, dass Großbritannien die Frist bis zum 31. Oktober für einen EU-Austritt einhalten werde, antwortete Johnson ausweichend. „Wir müssen rauskommen.“