Der ehemalige Außenminister Alois Mock und Gyula Horn (ungarischer Außenminister) beim Durchschneiden des „Eisernen Vorhanges“
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Eiserner Vorhang

Ungarn als Vorreiter beim Grenzabbau

„Ungarn war der entscheidende Dominostein, der letztlich das alles zu Fall gebracht hat“, hat Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel bereits 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs analysiert. Heuer jährt sich das Ende des kommunistischen Ostblocks zum 30. Mal. Die symbolischen Bilder für das Ende des Stacheldrahtzauns erzeugten der damalige Außenminister Alois Mock (ÖVP) und sein ungarischer Kollege Gyula Horn.

Am 27. Juni 1989 schnitten die beiden Politiker gemeinsam unter großer Medienöffentlichkeit einen Abschnitt des Stacheldrahtzauns nahe dem Grenzübergang Klingenbach/Sopron durch. Eigentlich hatte Ungarn schon in den Wochen zuvor fast den gesamten Grenzzaun der insgesamt 354 Kilometer langen Grenze zu Österreich abgebaut – unter Duldung Moskaus. Der als Reformer bekannte ungarische Staatsminister Imre Pozsgay hatte die Mitte der 1960er Jahre errichteten Grenzsperren bereits im Herbst 1988 als „historisch, politisch und technisch überholt“ bezeichnet.

Im Februar 1989 beschloss das Politbüro der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), der Regierung den Abbau der Grenzsperre zu empfehlen. Ungarn preschte damit vor. Denn nur wenige Wochen zuvor war der kommunistische Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, noch fest davon überzeugt, dass die Berliner Mauer „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben“ werde.

Der Eiserne Vorhang fällt

Der damalige Außenminister Alois Mock und sein Amtskollege Gyula Horn durchschnitten unter großem medialen Echo am 27. Juni 1989 einen Teil des Stacheldrahtzauns an der österreichisch-ungarischen Grenze.

Grenzabbau auch aus finanziellen Gründen

In Ungarn dürften bei der Entscheidung für den Grenzabbau auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle gespielt haben. Schon ab Mitte der 1980er Jahre begann die ungarische Grenzwache, den Abbau der Stacheldrahtsperren zu forcieren. Die Sperre sei zu kostspielig, es gebe zahlreiche Fehlalarme, so die Argumentation. „Es gab tatsächlich finanzielle Gründe, denn der marode Zaun hätte erneuert werden müssen“, erinnerte sich der frühere ungarische Premier Miklos Nemeth gegenüber der APA anlässlich des 30-Jahre-Jubiläums.

Ungarische Grenzsoldaten bauen den Eisernen Vorhang ab
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In Ungarn wurde bereits im Frühling 1989 mit dem Abbau des Stacheldrahtzauns an der Grenze zu Österreich begonnen

„Doch ebenso sah ich es als völlig überholt an, den Eisernen Vorhang am Ende des 20. Jahrhunderts weiter bestehen zu lassen“, so Nemeth. Als Erster habe er den damaligen österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) über den Abbau der Grenzanlage informiert. Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow sei erst später informiert worden.

Ex-Ministerpräsident Nemeth im ORF-Interview

Ungarn-Korrespondent Ernst Gelegs liefert in der ORF-Sendung „Report“ Einblicke, was damals hinter den politischen Kulissen passierte, und interviewt dazu den damaligen ungarischen Ministerpräsidenten Mklos Nemeth.

„Er hat das zur Kenntnis genommen und erklärt, das ist meine Verantwortung, und beruhigt, dass sich die blutigen Ereignisse von 1956 (Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch sowjetische Truppen, Anm.) nicht wiederholen würden. Wir haben uns die Hände geschüttelt.“ Die ersten Schritte seien nicht mit Moskau abgesprochen worden, erinnerte sich auch Pozsgay. Es habe aber zu der Zeit „verheißungsvolle Signale aus Moskau gegeben“: „Wir bauten auf das Interesse Gorbatschows an der Stabilität in Osteuropa.“

Tests in mehreren Etappen

Der Abbau des Grenzzauns in Ungarn erfolgte in mehreren Etappen. Ende März 1989, kurz nach seinem Besuch bei Gorbatschow in Moskau, ließ Nemeth einige Kilometer Zaun abbauen. Als es aus Moskau dazu keine Reaktion gab, setzte Budapest den nächsten Schritt. Bei einer internationalen Pressekonferenz am 2. Mai wurde der Abbau des Eisernen Vorhangs angekündigt, obwohl bereits ein großer Teil des Zauns verschwunden war.

Die Flucht nach Westen

In Ungarn durften schon 1988 ungarische Bürger legal in den Westen reisen, nicht aber Besucher aus den anderen kommunistischen „Bruderländern“, vor allem aus der DDR.

Das sei der zweite große Test gewesen, erinnerte sich Nemeth, da auch westliche Medien darüber berichteten. Für den Mock-Horn-Termin am Grenzzaun musste dieser daher wieder provisorisch aufgebaut werden, damit die beiden Minister etwas zum Durchschneiden hatten.

Druck auf Ungarn

Auch wenn sich Moskau angesichts der Entwicklungen in Ungarn zurückhielt, gab es dennoch großen Druck auf das Land innerhalb des Warschauer Paktes. Rumänien unter dem damaligen Staatschef Nicolae Ceausescu und die DDR unter Honecker drängten laut Pozsgay sogar auf eine militärische Intervention in Ungarn. Die Öffnung der Grenzen konnten aber auch sie nicht aufhalten.

Ostdeutsche an der ungarischen Grenze
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Ein Picknick im August 1989 nützten Hunderte DDR-Bürger, um über Ungarn Richtung Westen zu fliehen

Denn die symbolischen Bilder vom gemeinsamen Durchschneiden des Zauns schlugen sich zunächst vor allem in der DDR nieder. DDR-Bürger kannten Ungarn bereits von Urlauben am ungarischen Balaton. Entsprechend groß war die Wahrnehmung, als in Ungarn die Grenze Richtung Westen fiel. Im Sommer ’89 weigerten sich Zehntausende DDR-Bürger nach dem Sommerurlaub in Ungarn zurückzukehren. Viele versuchten über die nach wie vor bewachte Grenze nach Österreich zu gelangen.

Das „Paneuropäische Picknick“

Bei der Friedenskundgebung an der österreichisch-ungarischen Grenze, dem „Paneuropäischen Picknick“, gelang 600 DDR-Bürgern und -Bürgerinnen die Flucht nach Österreich.

Bei dem unter der Patronanz von Otto Habsburg durchgeführten „Paneuropäischen Picknick“, einer Friedensdemonstration am 19. August 1989, zwischen Sankt Margarethen im Burgenland und dem ungarischen Sopronköhida an der Grenze gelang es Hunderten DDR-Bürgern, die Grenze von Ungarn nach Österreich zu überqueren. Organisiert wurde die Initiative von Oppositionellen aus Ungarn – allen voran Laszlo Nagy. Nur einen knappen Monat später, am 10. September 1989, entschied sich die Regierung in Budapest, die Westgrenze für ausreisewillige DDR-Bürger zu öffnen. Zwei Monate später fiel auch in Berlin die Mauer.

„Europa ohne Trennung“

Während in Polen aus der freien Wahl am 4. Juni 1989 bereits die von Lech Walesa angeführte Gewerkschaft Solidarnosc als Sieger hervorging, wurde in Bulgarien im November die kommunistische Führung abgelöst. In der Tschechoslowakei (CSSR) trat das KP-Präsidium nach tagelangen Massendemonstrationen Ende November zurück. Wenige Tage später begann auch der Abbau des Eisernen Vorhangs an den Grenzen der CSSR. Rund um die Weihnachtsfeiertage 1989 wurde nach tagelangen Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen auch Ceausescu in Rumänien gestürzt.

Eine Reihe von „Trabbis“ und Menschenmengen beim Checkpoint Charlie in Berlin
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Mit Beginn der Grenzöffnung zwischen DDR und BRD am Abend des 9. November gingen schon in den ersten Stunden Zehntausende Menschen für einen Kurzbesuch nach Westdeutschland

Der Ostblock und vor allem der Eiserne Vorhang waren damit Geschichte. Diese Entwicklung habe niemand vorhergesehen, sagte der damalige Bundeskanzler Vranitzky im Rückblick: „Und alle, die sagen, sie hätte es schon vorher gewusst, irren sich.“ Selbst Anfang Juni 1989 war das Ende des Ostblocks noch nicht absehbar, aber zumindest etwas näher gerückt: „Ein Europa ohne Trennung, ohne Eisernen Vorhang, ohne Mauer und ohne Stacheldraht erscheint wieder erreichbar und wird kommen“, zeigte sich der damalige westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) zuversichtlich.

Knapp drei Jahrzehnte kam Europa auf dem Kontinent tatsächlich auch ohne Stacheldraht an den Grenzen aus. Seit 2015 gibt es in Ungarn aber erneut Stacheldrahtzäune. Diesmal wurden sie an der Südgrenze errichtet. Nicht um Menschen von der Flucht aus dem Land abzuhalten, sondern um Flüchtlinge nicht nach Ungarn und auf EU-Territorium zu lassen.