Heinrich Ehlers. Mitgliedsausweis des „U-Boot-Verbandes“
Privat Heinrich Ehlers
Versteckt vor NS-Regime

Das Leben der jüdischen „U-Boote“

Während Zehntausende Jüdinnen und Juden deportiert wurden, ist es einigen wenigen mit der Hilfe von einzelnen Mutigen gelungen, die Herrschaft der Nationalsozialisten in Wien zu überdauern. Eine erste umfassende Studie beleuchtet nun das Leben dieser „U-Boote“, wie sich die Untergetauchten selbst nannten.

„Es ist etwas in meinem Leben geschehen, etwas Dunkles, etwas Unergründliches. Und indem ich literarisch in mich selber gehe, muss ich versuchen, das Dunkle aufzuhellen“, sagte der Schriftsteller Robert Schindel über seine Biografie. Schindel war ein Säugling, als seine Mutter 1944 in Oberösterreich als Widerstandskämpferin verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Er selbst wurde nach Wien gebracht und überlebte im jüdischen Spital unter dem Code 4.4.44 – seinem Geburtsdatum – und einem falschen Namen. Erst viel später erfuhr er selbst die Umstände seines Überlebens.

Robert Schindels Geschichte ist eine von elf Erinnerungen, die die Historikerin Brigitte Ungar-Klein im Buch „Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938–1945“ aufgeschrieben hat. „Ich war kein klassisches U-Boot“, so Schindel. Aber eigentlich gab es das „klassische“ Schicksal gar nicht, die Fälle sind enorm verschieden. Ungar-Klein unternimmt mit ihrem Buch den Versuch einer strukturierten Aufarbeitung.

Edeltrud und Walter Posiles, 1943
Privatsammlung Brigitte Ungar-Klein
Edeltrud und Walter Posiles 1945

Ein Drittel wurde denunziert oder entdeckt

Etwa 1.500 Personen jüdischer Herkunft sind namentlich bekannt, die in Wien während der NS-Zeit zumindest eine Zeit lang im Verborgenen gelebt haben: nach vorgetäuschtem Suizid, unter falscher Identität, versteckt in Magazinen oder Kohlenkellern, geschützt von Freundinnen oder „arischen“ Familienmitgliedern, oder in einzelnen Fällen auch gegen Bezahlung bei Fremden. Ohne offizielle Papiere gab es keine Lebensmittelmarken, oft war Schleichhandel die einzige Chance, zu überleben.

Die Quellenlage ist kompliziert, unter anderem weil jede Dokumentation eine im verborgenen lebende Person gefährden konnte, so Ungar-Klein. Oft sind es dann die Aufzeichnungen der Gestapo über gefasste Personen und ihre Helfer, die gescheiterte Hilfsversuche belegen. Etwa ein Drittel der bekannten Fälle wurde denunziert oder entdeckt, die Betroffenen wurden in Konzentrationslager deportiert.

„Du bleibst bei mir“

Unter den U-Booten wie unter den Helferinnen und Helfern waren etwas mehr Frauen als Männer, die meisten waren aus dem Arbeitermilieu oder der unteren Mittelschicht. Es halfen Privatpersonen, jüdische und kirchliche Organisationen, es gab versteckte Kinder und Alte, es gab Geburten und Todesfälle. Die Motive der Helferinnen und Helfer waren so unterschiedlich wie die Geschichten der U-Boote. Oft waren es einfach die Gelegenheit und das Wissen um die akute Gefahr, die Menschen den Mut verlieh.

Brigitte Ungar-Kleins „Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945“
Picus Verlag Wien

Buchtipp

Brigitte Ungar-Klein: Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945. Picus Verlag, 376 Seiten, 28 Euro.

Viele waren sich im Nachhinein nicht mehr sicher, wie sie sich das gefährliche Unterfangen überhaupt zugetraut hatten. „Ja weißt du, wie man so was schafft – wenn man nur stundenweise denkt“, soll die Schauspielerin Dorothea Neff dazu gesagt haben. Sie hatte kurzerhand ihre Freundin Lilli Wolff aufgenommen mit den Worten „Du bleibst bei mir“ und sie so vor der Deportation gerettet.

Edeltrud Becher hatte den um 19 Jahre älteren tschechischen Juden Walter Posiles 1937 kennengelernt und sich verliebt. Als er und seine beiden Brüder 1942 den Deportationsbefehl ins Ghetto Theresienstadt bekamen, versteckten sie und ihre Schwester Charlotte die drei in einer Dachwohnung. 1942 erkrankte Walter lebensgefährlich. Edeltrud gelang es, ärztliche Hilfe aufzutreiben.

Literarische Aufarbeitung

Andere Menschen konnten nirgends lange bleiben, schliefen in Friedhofsgruften, in Schrebergartenhäuschen oder auf Dachböden. Da die meisten Männer an der Front oder beim Arbeitsdienst waren, fielen Männer auf der Straße mehr auf, für sie war der „U-Boot“-Status gefährlicher, sie wurden öfter kontrolliert. Die im Buch beschriebenen Schicksale zeichnen ein bedrückendes Bild der psychischen und physischen Belastungen, die im Verborgen lebende Menschen auf sich nehmen mussten.

Dazu sind in jüngster Zeit auch mehrere literarische Bearbeitungen erschienen: „Im Verborgenen“ (Picus) von Ljuba Arnautovic etwa beruht auf dem Schicksal von Walter Baumgartner, der 1944 mit Hilfe von Arnautovics Großmutter Eva seinen Suizid vortäuschte, bei ihr unterkam und sie nach Kriegsende heiratete. In „Versteckte Jahre“ (Hanser) schrieb Anna Goldenberg die Geschichte ihres Großvaters und dessen Helfers auf. Und Erich Hackl verfasste mit „Am Seil“ (Diogenes) ein Buch über einen einfachen Kunsthandwerker, der eine Jüdin und mit ihrem Kind versteckte.

Was die Existenz der „Gerechten“ bedeutet

Die Bedeutung der Helferinnen und Helfer, der „Gerechten unter den Völkern“, die in der Gedenkstätte Jad Vaschem gewürdigt werden, ist enorm. Die Existenz von Helfenden ermöglichte KZ-Überlebenden überhaupt, wieder nach Wien zurückzukommen, argumentierte etwa der Psychotherapeut Viktor Frankl, der selbst vier Konzentrationslager überlebt und mehrere Familienmitglieder in Lagern verloren hatte. Eine Cousine von Frankl hatte in Wien überlebt, unter Lebensgefahr versteckt bei einer katholischen Baronin.

Nach Kriegsende sollte die Registrierung der Helferinnen und Helfer „der Welt den Beitrag des österreichischen Volkes an seiner Befreiung vor Augen führen“, hieß es im Juli 1945 in der ersten Tageszeitung „Neues Österreich“ – nach Kriegsende wesentlich für das österreichische Selbstverständnis, erstes Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein, und wichtiges Argument beim Verhandeln des Staatsvertrages.

Die Wiedergutmachung an den Opfern geriet dabei allerdings ins Hintertreffen, Entschädigungsanträge wurden verschleppt oder unter fadenscheinigen Argumenten abgelehnt, obwohl die Überlebenden von der Zeit im Verborgenen tief traumatisiert waren. Die Schriftstellerin Elfriede Gerstl, die als Zehnjährige mit ihrer Mutter mehrere Jahre lang untergetaucht war, wollte nicht immer an diese Zeit erinnert werden und schrieb auch keinen Roman darüber, weil sie „nicht als lebend gebliebene Anne Frank gesehen werden“ wollte.