Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
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„Machtverlust“ für Erdogan

Ex-Parteifreunde werden zum Problem

Nach der schweren Niederlage der türkischen Regierungspartei AKP bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul muss Präsident Recep Tayyip Erdogan nun den nächsten Schlag einstecken: Der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan gab am Montag seinen Austritt aus der Partei schriftlich bekannt – auch Gerüchte über eine neue Partei schien er zu bestätigen. Der Erste ist er damit aber nicht.

Babacan habe am Montag ein entsprechendes Schriftstück an die Parteizentrale geschickt, meldeten zahlreiche Medien. Außerdem zitierten sie aus einem Brief an die Öffentlichkeit, den Babacan verbreitet haben soll. Er sei lange hinter der Partei gestanden, schrieb Babacan. Aber in den vergangenen Jahren hätten sich Gräben aufgetan zwischen den Grundsätzen, an die er glaube, und dem Vorgehen der Partei.

„Verstandesmäßig und im Herzen habe ich eine Abgrenzung erlebt“, hieß es. Es sei „unumgänglich geworden, neue Anstrengungen für Gegenwart und Zukunft der Türkei zu unternehmen“. Er fühle dafür große Verantwortung. Es gehe auch darum, den Ruf des Landes zu verbessern. „Menschenrechte, Freiheiten, eine fortschrittliche Demokratie und Rechtshoheit sind unsere unerlässlichen Grundsätze.“

Der frühere türkische Wirtschaftsminister Ali Babacan
Reuters/Ruben Sprich
Babacan begründet seinen Austritt mit „tiefen Differenzen“ hinsichtlich des politischen Kurses der Partei unter Erdogan

Beobachter: Unruhen sind Zeichen von „Machtverlust“

Unter den aktuellen Umstände brauche es eine „völlig neue Vision“ für die Zukunft der Türkei, schrieb Babacan, der in seiner Zeit als Wirtschaftsminister von 2002 bis 2007 den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes gelegt hatte. Er forderte eine „neue Strategie, Pläne und Programme“. Das Timing für die Verkündigung seines Austritt scheint gut gewählt zu sein: Nachdem Erdogan am Samstag den Chef der türkischen Notenbank entlassen hatte, ist die Landeswährung Lira am Montag vorübergehend um mehr als zwei Prozent eingebrochen.

Ali Babacan

Babacan war 2001 Gründungsmitglied der AKP. Von 2002 bis 2007 war er Wirtschaftsminister. Später wurde er Außenminister und Vizeministerpräsident sowie Chefunterhändler für die Beitrittsverhandlungen mit der EU.

In den vergangenen Monaten war zudem immer wieder das Gerücht aufgetaucht, dass Babacan gemeinsam mit Ex-Präsident Abdullah Gül für eine neue Partei AKP-Mitglieder abwerben will, die mit Erdogans zunehmend autoritärem Politikstil nicht einverstanden sind. Babacan schien die Gerüchte zu bestätigen, indem er schrieb, eine „neue Anstrengung“ für die Zukunft der Türkei sei nun „unvermeidbar“. „Ich und viele meiner Freunde fühlen die große und historische Pflicht, diese Anstrengung zu unternehmen“, schrieb er. Es sei ihm daher nicht möglich, länger in der AKP als Gründungsmitglied zu bleiben.

Ähnliche Meldungen gab es auch über Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der im April in einem 15-seitigen Manifest, die Missstände der Partei aufzeigte. Laut Medienberichten soll auch er an der Gründung einer eigenen Partei arbeiten. Beobachter werteten die Unruhe in Erdogans Partei als Zeichen von Machtverlust: Babacan sei der wahrscheinlich angesehenste ehemalige Minister der Regierungspartei, zitierte etwa Bloomberg den Historiker und Türkei-Experten Timothy Ash. Er sprach von einem „schweren Schlag“ für Erdogan.

„Erdogans Weggefährten wenden sich ab“

Die Parteigründung werde jedenfalls mit großer Spannung erwartet, schrieb etwa Murat Sabuncu, Ex-Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, in einem Gastbeitrag für die Deutsche Welle (DW). „Babacan sei derjenige, der die Regierung der AKP beenden wird, sagen die einen – andere glauben gar, er selbst habe das Zeug zum türkischen Staatsoberhaupt“, so Sabuncu.

Neben Babacan würden sich auch weitere Weggefährten von Erdogan abwenden. Namhafte Politiker würden mit der Partei in Verbindung gebracht, etwa der ehemalige Justizminister Sadullah Ergin, der ehemalige Innenminister Besir Atalay, der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, sowie der ehemalige Wirtschaftsminister Mehmet Simsek.

Kritik an Babacans Haltung in der Vergangenheit

Doch Sabuncu sparte auch nicht mit Kritik: So sei Babacan selbst in schwierigsten Zeiten überhaupt nicht kritisch gegenüber der eigenen Partei gewesen: Er habe einfach weitergemacht. Und das gleiche Problem besäßen auch die anderen Personen, die an der Parteigründung beteiligt sind. „Er (Babacan, Anm.) war mitten im Geschehen, als die Türkei die Demokratie mehr und mehr abbaute – er bekleidete wichtige Positionen in Partei und Regierung. In dieser Zeit leistete er keinen Widerstand“, so Sabuncu.

Dennoch werde Babcans Partei bei der Wahl 2023 eine „wichtige Alternative zur AKP“ darstellen, so der Journalist. Denn seine größte Stärke sei sein Profil als „fleißiger und bedachter Visionär“. Und weiter: „Aber bevor man mit der neuen Partei in die Zukunft schreitet, muss zunächst ihre Haltung zur Vergangenheit erklärt werden.“

Medien: Mit Austritt bis nach Bürgermeisterwahl gewartet

Der regierungsnahe Journalist Abdulkadir Selvi hatte Anfang Juli in der Zeitung „Hürriyet“ geschrieben, Babacan habe Erdogan bereits Ende Mai seine Absicht mitgeteilt, die Partei zu verlassen. Dabei habe er auch bestätigt, dass er eine neue Partei gründen wolle. Laut Selvi wollte er jedoch mit dem Austritt aus der AKP bis nach der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul am 23. Juni warten.

Bei der regulären Kommunalwahl am 31. März hatte die AKP in vielen Großstädten an Zustimmung verloren. Hauptgrund war die schlechte wirtschaftliche Lage, manche reagierten auch auf Erdogans aggressive Rhetorik. Selbst Davutoglu, ebenfalls Gründungsmitlied der AKP, hatte Erdogans Strategie rund um die Kommunalwahl kritisiert.

Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu
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Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu – die AKP hatte die Wahl in der 16-Millionen-Metropole deutlich verloren

„Größte Niederlage seit eineinhalb Jahrzehnten“

Der wichtigste Bürgermeisterposten des Landes in Istanbul fiel nicht nur im März, sondern auch bei der Wiederholung der Wahl am 23. Juni an den Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu, der mit positiven und einenden Botschaften punktete. Imamoglu hatte sich im Wahlkampf ganz auf soziale Themen wie Armut, Arbeitslosigkeit und Kinderbetreuung konzentriert.

ORF-Korrespondent Jörg Winter sprach am Wahltag in der Zeit im Bild von der „größten Niederlage für das Erdogan-Lager seit eineinhalb Jahrzehnten“. Denn obwohl es sich nur um eine Bürgermeisterwahl gehandelt habe, habe der Präsident stark im Wahlkampf mitgemischt. Es sei eine „Testwahl über den Präsidenten selbst“ gewesen – „über seinen Stil, die Aktionen im Wahlkampf“, so Winter weiter. Erdogan hatte zuvor wiederholt betont, „wer auch immer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“.