Flüchtlinge auf einem Schlauchboot
APA/AFP/sea-eye.org/Fabian Heinz
Menschenrechte im Mittelmeer

Der Politstreit über die Seerettung

Die Zahl der Menschen, die in der EU um Asyl ansuchen, ist schon vor Längerem wieder auf das Niveau vor der Flüchtlingskrise 2015 gesunken – und ist heuer laut aktuellen Angaben weiter deutlich gesunken. Fehlende Anpassungen in der EU-Politik und die Tatsache, dass rechte Politiker die Asyl- und Migrationspolitik zur Wählermobilisierung einsetzen, sorgen dafür, dass Flucht und Migration ein zentrales Thema bleibt.

Für höchst kontroverse politische Reaktionen sorgte zuletzt ja das Tauziehen um das Schiff „Sea-Watch 3“ mit der deutschen Kapitänin Carola Rackete. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini hat Rackete scharf angegriffen. Nach dem erneuten Anlegen eines Flüchtlingsschiffs, „Alex“, in Lampedusa kündigte er am Wochenende ein härteres Vorgehen an.

Seine Partei Lega werde unter anderem vorschlagen, die Strafe für Hilfsorganisationen, die trotz eines Verbots italienische Häfen ansteuern, auf eine Million Euro anzuheben. Sein Land lasse sich nicht „erpressen“.

80 Prozent weniger Flüchtlinge

Die Flüchtlingszahlen über das Mittelmeer sind auch 2019 gesunken. Laut inoffiziellen Frontex-Angaben ging die Zahl von Jänner bis Juni verglichen mit dem ersten Halbjahr 2018 allein auf der zentralen Mittelmeer-Route Richtung Italien um 80 Prozent zurück.

Kurz gegen Wecken „falscher Hoffnungen“

Unterstützung erhielt Salvini unter anderen von ÖVP-Obmann und Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Er sagte am Wochenende gegenüber der „Welt am Sonntag“, es sei falsch, dass Hilfsorganisationen im Mittelmeer gerettete Migranten nach Europa bringen. „Sie wecken damit nur falsche Hoffnungen und locken damit womöglich unabsichtlich noch mehr Menschen in Gefahr“, so Kurz erneut unter Verweis auf den von ihm häufig genannten „Pull-Faktor“.

In der Migrationsforschung ist die These, dass die Seerettung sowie die Hoffnung auf gute Jobs und Sozialhilfe die Menschen aus Afrika nach Europa locken würden, laut „Süddeutscher Zeitung“ längst überholt. Darüber sei in der Wissenschaft vor rund 50 Jahren debattiert worden, heute beschäftige das nur noch die Politik, zitierte die Zeitung den Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer. Das sei „viel zu schematisch gedacht“, zudem gebe es „keinen einzigen Beleg“ für diese These.

Vor allem rechte Politikerinnen und Politiker forcieren eine Abschottung der Grenzen und die möglichst weitgehende Streichung von Sozialhilfen für im Land befindliche Migranten und Asylwerber, um den von ihnen behaupteten „Pull-Faktor“ zu minimieren.

Migrationsexperte Knaus zur Seenotrettung im Mittelmeer

Migrationsexperte Gerald Knaus war Architekt des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei. In der ZIB2 analysierte er die Situation im Mittelmeer und die Auseinandersetzung über die Seenotrettung.

Experte kritisiert Salvini

Real ist freilich weiterhin das Problem, dass es de facto kein funktionierendes EU-weites Asyl- und Migrationssystem gibt. Das Dublin-System funktioniert de facto nicht mehr. Damit beginnt bei jedem Einzelfall aufs Neue der Streit darüber, welches Land eine in Europa ankommende Gruppe von Flüchtlingen oder Migranten – meist handelt es sich um ein paar Dutzend Menschen – aufnimmt.

Der Migrationsexperte Gerald Knaus, der das EU-Türkei-Abkommen von 2016 mitentwickelt hat, übte in der ZIB2 Montagabend scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik des italienischen Innenministers Salvini. Es sei eines der am tiefsten verwurzelten Vorurteile, dass Italien angesichts eines Flüchtlingsansturms von den anderen EU-Staaten allein gelassen werde, sagte Knaus.

Rackete bleibt in Italien

Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete wird vorerst in Italien bleiben. Die erste gerichtliche Vernehmung verzögert sich, daher wurde ihr freigestellt, zwischenzeitlich nach Deutschland heimzukehren. Racketes derzeitiger Aufenthaltsort ist nicht bekannt.

„Salvini falschen Mythos wegnehmen“

In Italien hätten in den letzten Jahren 92.000 Menschen Asyl oder subsidiären Schutz bekommen, im selben Zeitraum (in den letzten fünf Jahren) seien es in Schweden 220.000 und in Deutschland 900.000 gewesen. Viele Migranten seien in Italien an Land gebracht worden, hätten dort aber oft keinen Asylantrag gestellt und seien in andere Länder weitergereist, so Knaus. Salvini mache auf Kosten dieser Menschen Politik. Mit seiner aggressiven Rhetorik gegen Deutschland sichere er sich die Zustimmung der Lega-Anhänger.

Die von deutschen NGOs geretteten Menschen, bei denen es sich lediglich um einige hundert im Monat handle, sollten nach Deutschland gebracht werden. Damit würde man Salvini seinen falschen Mythos wegnehmen, meinte Knaus.

Avramopoulos für vorläufige Regeln

Die EU-Kommission forderte unterdessen die Mitgliedsstaaten auf, sich auf vorläufige Regeln zur Verteilung von Flüchtlingen zu einigen. „Die Herausforderungen der Migration können nicht nur in der Verantwortung von Italien und Malta liegen, nur weil sich diese Staaten am Mittelmeer befinden“, sagte EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos der „Welt“ (Dienstag-Ausgabe).

Bis die neuen Regeln zur Verteilung von Flüchtlingen umgesetzt würden, fordere er daher alle EU-Mitgliedsländer auf, „ihre Arbeit zu beschleunigen und vorläufige Vereinbarungen zu finden, wie mit den Menschen umzugehen ist, wenn sie die Rettungsschiffe verlassen haben“. Dabei müssten Situationen wie im Fall der „Sea-Watch 3“ und der „Alan Kurdi“, aber auch ähnliche Vorfälle, in denen die Kommission Einzelfalllösungen zwischen den Mitgliedsstaaten koordiniert habe, verhindert werden, so Avramopoulos. Er hofft auf Fortschritte beim nächsten Innenministertreffen kommende Woche.

Säulengrafik über die Häufigkeit von illegalen Grenzübertritten in EU seit 2014
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Frontex

Zugleich müsse die EU auch mit Drittstaaten zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass Menschen bei der Flucht ihr Leben riskieren. Dabei sollten jene, die Schutz durch eine Umsiedlung benötigten, auf legalem Wege nach Europa kommen.

Schwere Menschenrechtsverletzungen in Libyen

Experten warnen davor, die Flüchtenden nach Libyen zurückzuschieben oder EU-Auffanglager auf afrikanischem Boden zu errichten. Die meisten im Mittelmeer geretteten Geflüchteten machen sich von Libyen aus in meist überfüllten Schlauchbooten auf die gefährliche Überfahrt. In dem nordafrikanischen Staat werden die Menschenrechte in vielen Fällen grob verletzt. Das Weltstrafgericht in Den Haag untersucht mutmaßliche Verbrechen in den Flüchtlingslagern. Dabei geht es um Tötungen, Vergewaltigungen und Folter. Zudem tobt in Libyen ein bewaffneter Machtkampf. Erst vergangene Woche starben 44 Menschen bei einem mutmaßlichen Luftangriff auf ein Internierungslager mit afrikanischen Migranten.