Eine Frau bedient einen Hebel in einem Amazon-Logistikcenter
Reuters/Thilo Schmuelgen
Neue Arbeitswelt

Amazon setzt Millionen auf Umschulung

Vernichten Automatisierung und neue Technologien Jobs oder tragen sie dazu bei, dass anspruchsvollere, besser bezahlte Arbeitsplätze entstehen? Bei Amazon könnte sich bald herausstellen, welche Theorie zutreffender ist – in die Weiterbildung und Umschulung der Belegschaft werden Millionen investiert.

Der Konzern gab am Donnerstag bekannt, dass er 700 Millionen Dollar für die Umschulung von 100.000 seiner Angestellten in den USA – das ist ein Drittel der dortigen Belegschaft – ausgeben will. Das Programm soll bis 2025 laufen und Mitarbeitern aus unterschiedlichen Bereichen das Rüstzeug für anspruchsvollere Jobs verschaffen. Amazons Weiterbildungsinitiative ist laut „Wall Street Journal“ („WSJ“) eine der derzeit größten und kostspieligsten weltweit. Pro teilnehmenden Mitarbeiter nimmt der Konzern rund 7.000 Dollar in die Hand.

Wobei nicht versucht werden soll, aus Paketschlichtern Softwareingenieure zu machen – vielmehr zielt das Programm darauf ab, Tausende Arbeitnehmer auf der Qualifikationsleiter ein oder zwei Stufen nach oben zu hieven. So sollen etwa Lagerarbeiter zu IT-Technikern und Programmierer auf unteren Ebenen zu Datenverarbeitern weitergebildet werden.

Kommen Entlassungen billiger?

Die Aussicht auf Erfolg ist ungewiss. Viele Unternehmen prüfen derzeit, ob es wirtschaftlicher ist, ihre Mitarbeiter weiterbilden zu lassen oder sie zu entlassen und durch neue Arbeitskräfte mit den gewünschten Fertigkeiten zu ersetzen. Experten zufolge können Umschulungen die Arbeitsmoral der Belegschaft verbessern und ständige Abgänge verhindern – nicht jeder oder jede habe aber die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich auf eine neue Rolle einzulassen.

Arbeiter vor einem Paketförderband in einem Amazon-Logistikcenter
APA/AFP/Johannes Eisele
Niederqualifizierte Amazon-Arbeiter sollen schrittweise an neue Jobs herangeführt werden

Angesichts der historisch niedrigen Arbeitslosigkeit in den USA und dem Mangel an qualifizierten Beschäftigten steigt nicht nur bei Amazon der Druck, den Personalbedarf intern zu decken. Weiterbildungsprogramme laufen bzw. liefen auch bei milliardenschweren Unternehmen wie AT&T, Walmart, JPMorgan Chase und Accenture.

Amazons Allmacht

Amazon ist einer der wertvollsten Konzerne der Börse und Gründer Jeff Bezos der reichste Mensch der Welt. Der 25 Jahre alte Konzern entwickelte sich vom Internethändler zu einem breit aufgestellten Onlinegiganten, der auch stark auf Streaming setzt und mit Cloud-Services im Netz Geld scheffelt.

Diese Initiativen, schrieb die „New York Times“, „könnten dazu beitragen, eine grundlegendere Frage zu beantworten: Wird die Automatisierung eine Lösung für die großen wirtschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – niedrige Löhne, zunehmende Ungleichheit und schwaches Wachstum – sein oder diese Probleme noch verschlimmern?“

Interne Ausbildung oft alternativlos

„Das Ausmaß und das Tempo der Veränderungen für die Belegschaft sind beispiellos“, zitierte die „New York Times“ („NYT“) Susan Lund, Wirtschaftswissenschaftlerin am McKinsey Global Institute, dem Forschungszweig des Beratungsunternehmens McKinsey & Company. „Sie können nicht jeden von der Straße einstellen, den sie brauchen. Sie haben keine andere Wahl, als ihre eigenen Arbeiter umzuschulen.“

Diese Ansicht teilt Ryan Carson, Gründer und Geschäftsführer von Treehouse, einem Unternehmen, das Techniklehrlinge mit Arbeitgebern zusammenbringt und ihre Ausbildung unterstützt. Viele Firmen hätten eingesehen, dass sie nur vor der Wahl stünden, die Qualifikation ihres bestehenden Personals zu diversifizieren oder sich mit einem akuten Mangel von geeigneten Arbeitskräften abzufinden. „Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr aufhalten“, sagte Carson dem „WSJ“. „Wir sind zurück in einer Zeit, in der Unternehmen nachhaltig in ihr Personal investieren.“

Eine Frau mit Tablet geht zwischen den Regalen eines Amazon-Logistikcenters
APA/AFP/Johannes Eisele
Amazon sieht sich auf vielen Fronten mit harscher Kritik konfrontiert – Schaden hat der Konzern bisher nicht dadurch erlitten

Ohne Verlierer geht es nicht

Entscheidend für die Umschulungen ist die Prognose, welche Fähigkeiten auch in einigen Jahren noch benötigt werden. „Um die Gewinner zu eruieren, müssen oft erst die Verlierer bestimmt werden“, zitierte das „WSJ“ Jeff Strohl, Forschungsdirektor am Georgetown University Center für Bildung und Arbeit. Und Verlierer gibt es, glaubt man zahlreichen Berichten, bei Amazon genug: Seit Jahren steht der Konzern wegen umstrittener Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne in der Kritik. Mit seiner großen Marktmacht und seinen Niedrigpreisen zerstöre er den Einzelhandel, wird moniert.

Amazon wehrt sich gegen diese Darstellung: Man habe in den letzten Jahren eine Vielzahl von Schritten unternommen, um die Vergütung der Beschäftigten zu verbessern und ihnen den Zugang zu Bildungschancen zu ermöglichen. Im vergangenen Jahr erhöhte das Unternehmen den Mindestlohn für seine US-Belegschaft auf 15 US-Dollar pro Stunde.

„Rein pragmatische Geschäftsentscheidungen“

Dass der neuen Fortbildungsinitiative selbstlose Motive zugrunde liegen, darf allerdings bezweifelt werden: Laut Peter Cappelli, Professor an der Business School der University of Pennsylvania, trachtet Amazon damit primär danach, im Kampf um gute Arbeitskräfte einen Vorsprung auf die Konkurrenz herauszuholen. „Es ist nicht altruistisch“, sagte Cappelli dem „WSJ“. „Dahinter stecken rein pragmatische Geschäftsentscheidungen.“