Ursula von der Leyen
Reuters/Vincent Kessler
Kommissionspräsidentin

Knappe Mehrheit für von der Leyen

Die deutsche CDU-Politikerin Ursula von der Leyen wird als erste Frau Präsidentin der EU-Kommission. Die bisherige deutsche Verteidigungsministerin erhielt am Dienstag mit 383 von 747 Stimmen äußerst knapp die notwendige absolute Mehrheit im Europaparlament, wie Parlamentspräsident David Sassoli mitteilte. 374 Stimmen waren notwendig.

Sie kann damit am 1. November die Nachfolge des Luxemburgers Jean-Claude Juncker antreten. Die 60-Jährige hatte bis zur letzten Minute um Stimmen gekämpft und am Vormittag mit einer engagierten Rede für sich geworben. Sie machte weitreichende Zusagen für ein klimaneutrales, soziales und geeintes Europa.

Die designierte Kommissionspräsidentin bedankte sich nach ihrer Wahl bei ihren Unterstützern und rief Kritiker zur Zusammenarbeit auf. „Meine Botschaft an alle von Ihnen lautet: Lasst uns konstruktiv zusammenarbeiten“, sagte sie nach der Abstimmung im Europaparlament am Dienstagabend in Straßburg. Ziel müsse „ein geeintes, ein starkes Europa sein“.

„Mehrheit ist Mehrheit“

Zu ihrer Wahl sagte von der Leyen: „Ich fühle mich so geehrt und ich bin überwältigt und bedanke mich für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben.“ Die vor ihr liegenden Aufgaben erfüllten sie mit Demut. „Das ist eine große Verantwortung, und die beginnt jetzt“, sagte sie in dem kurzen, in englischer Sprache gehaltenen Redebeitrag.

EU-Abgeordnete im EU-Parlament
AP/Jean-Francois Badias
Die Abgeordneten bei der Wahl

Zudem betonte sie angesichts des knappen Wahlergebnisses: „In der Demokratie ist die Mehrheit die Mehrheit.“ Es sei gelungen, eine proeuropäische Mehrheit zu formieren. Vor zwei Wochen, direkt nach ihrer Nominierung durch die Staats- und Regierungschefs, hätte sie vermutlich noch keine Mehrheit gehabt.

Liberale und Sozialdemokraten empfahlen Wahl

Nachdem die Europäische Volkspartei (EVP) ihrer Kandidatin die volle Unterstützung zugesagt hatte, sprachen sich am Dienstagnachmittag auch Liberale und Sozialdemokraten für von der Leyen aus – allerdings schlossen sich nicht alle Abgeordneten der Empfehlung an. So hatten SPÖ- und SPD-Abgeordnete angekündigt, gegen die Kandidatin zu stimmen.

Grüne und Linke hatten ebenso wie die rechte Fraktion Identität und Demokratie (ID), der die FPÖ angehört, im Vorfeld bereits beschlossen, von der Leyen nicht zu wählen. Die Wahl fand geheim statt, damit ist anders als bei anderen Abstimmungen im Europaparlament nicht dokumentiert und nachvollziehbar, wer wie gestimmt hat.

Zahlreiche Glückwünsche

Nach der Wahl trudelten umgehend Glückwünsche ein: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gratulierte in einem dreisprachigen Tweet – Französisch, Deutsch und Englisch. „Endlich steht die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission“, schrieb der Luxemburger. „Dieser Job ist eine riesige Aufgabe und eine Herausforderung. Ich bin sicher, dass Sie eine großartige Präsidentin werden. Willkommen zu Hause!“ Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb auf Twitter: „Heute hat Europa Ihr Gesicht.“ Es sei das Gesicht des Engagements, Ehrgeizes und Fortschritts. „Wir können stolz auf Europa sein.“

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sprach von einem „historischen Tag für Europa“. Von der Leyen sei die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission und die erste Deutsche seit mehr als 50 Jahren, schrieb sie auf Twitter. Sie komme aus der politischen Mitte, baue Brücken und streite für die Einheit Europas. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte von der Leyen eine enge Zusammenarbeit zu. „Auch wenn ich heute eine langjährige Ministerin verliere, gewinne ich eine neue Partnerin in Brüssel.“

Klimakrise im Zentrum der Agenda

Von der Leyen hatte in ihrer Rede zuvor zunächst an die Französin Simone Veil erinnert, die vor rund 40 Jahren zur ersten Präsidentin des EU-Parlaments gewählt wurde. Die EU benötige auch weiterhin derartige Pionierleistungen, so von der Leyen – und sie sei nun die erste Frau, die für den Vorsitz der EU-Kommission kandidiert. Den Abgeordneten versprach sie, dass sie „Europa einen und stärken“ wolle. Jene, die „dieses Europa schwächen, spalten oder ihm seine Werte nehmen“ wollten, würden in ihr aber „eine erbitterte Gegnerin“ finden.

Wie bereits in einem achtseitigen Brief an die Abgeordneten nannte von der Leyen schließlich eine Reihe von Projekten, die sie in der fünfjährigen Amtszeit als Kommissionspräsidentin angehen möchte. An erster Stelle bekannte sie sich zu verstärkten Anstrengungen im Kampf gegen die Klimakrise. „Wir müssen mehr tun als bisher“, so von der Leyen, die bereits in den ersten hundert Tagen ihrer Amtszeit einen „grünen Deal für Europa“ in Bewegung setzen will.

Von der Leyen hält Plädoyer für Europa

Ursula von der Leyen will EU-Kommissionspräsidentin werden. Dafür braucht sie die Mehrheit der Europaabgeordneten. Ihre Rede am Dienstag war ein glühendes Plädoyer für Europa.

„Was wir ausgeben, müssen wir erst einmal verdienen“

Ganz nach dem Motto „Was wir ausgeben, müssen wir erst einmal verdienen“ folgten in der Rede von der Leyens Vorhaben zur Stärkung von Europas Wirtschaft. Neben einer Umsetzung eines offenen Kapitalmarktes für Klein- und Mittelunternehmen will von der Leyen große Internetkonzerne stärker besteuern. Weiters sprach sie sich für eine europäische Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen in der EU sowie national definierte Mindestlöhne aus.

Ursula Von der Leyen
APA/AP/Jean-Francois Badias

Angesichts der von ihr als „schwer und spaltend“ bezeichneten Flüchtlingsdebatte setzt sie auf einen „neuen Pakt für Migration und Asyl“. Als Kernstück hob von der Leyen hier den Ausbau der europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf 10.000 Personen bis 2024 und eine Reform des Dublin-Systems für Asylsuchende hervor. Zugleich bekannte sie sich zur Seenotrettung im Mittelmeer. „Auf See ist es die Pflicht, Menschenleben zu retten“, sagte sie.

Weiterer Brexit-Aufschub nicht ausgeschlossen

An Liberale und Sozialdemokraten gerichtet betonte sie, dass sie als Kommissionspräsidentin entschieden gegen Verstöße gegen Rechtsstaatsprinzipien in der EU vorgehen wolle. Hintergrund ist der Vorwurf, dass osteuropäische Parlamentarier für sie stimmen wollen, weil sie nachgiebiger gegenüber den umstrittenen Justizreformen in Polen und Ungarn sein könnte.

Während von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede für viele Passagen quer durch die Fraktionen Applaus erntete, gab es bei ihrer Ankündigung, zu Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik übergehen zu wollen, Buhrufe der Rechtsaußen-Abgeordneten. Zum Brexit sagte von der Leyen, dass man die Entscheidung Großbritanniens bedauere, aber respektiere. Protest gab es bei ihrer Erklärung, dass sie notfalls bereit wäre, das Austrittsdatum 31. Oktober erneut zu verschieben. Am ausgehandelten Austrittsvertrag der EU mit Großbritannien könne aber nicht gerüttelt werden. „Er schafft Sicherheit in einer Zeit, in der der Brexit für Unsicherheit sorgt.“

Tusk: „Sie wird es am besten machen“

Versöhnliche Töne kamen am Dienstag unterdessen vom Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, der via Twitter lobende Worte für von der Leyens Programm fand. Von der Leyens Rede sei „stark, warm und balanciert“ gewesen, sagte via Twitter zudem die Spitzenkandidatin der Liberalen, Margrethe Vestager, die wie Timmermans ebenfalls lange als Favoritin für den Kommissionschefsessel gehandelt worden war.

Auch der scheidende EU-Ratspräsident Donald Tusk streute wenige Stunden vor der Abstimmung von der Leyen noch einmal Rosen. „Wenn sie sagt, dass sie eine leidenschaftliche Kämpferin für die Einheit und die Stärke Europas sein wird, meint sie das auch. Und sie wird es am besten machen“, schrieb Tusk auf Twitter.