Ursula von der Leyen
Reuters/Vincent Kessler
Neue Kommissionschefin

Viel versprochen, knapp gewonnen

Ursula von der Leyen wird die neue Präsidentin der EU-Kommission. Die deutsche CDU-Politikerin wurde am Dienstagabend im Europaparlament mit einem äußerst knappen Ergebnis in das Amt gewählt: Sie erhielt 383 Stimmen – die nötige absolute Mehrheit lag bei 374. Dabei hatte von der Leyen in einer Rede am Vormittag große Zugeständnisse und Versprechungen gemacht.

In ihrer Rede hatte von der Leyen Einheit und Zusammenhalt beschworen, damit Europa sich in der Welt behaupten könne. Und sie wiederholte eine ganze Reihe von Zusagen, die sie bereits in den vergangenen Tagen an die Abgeordneten gemacht hatte, und unterfütterte sie mit Details.

Sie bekräftigte ihr Versprechen eines klimaneutralen Europas bis 2050 und einer Senkung der Treibhausgasemission bis um 55 Prozent bis 2030. „Unsere drängendste Aufgabe ist es, unseren Planeten gesund zu halten“, sagte von der Leyen. Sie betonte, sie werde sich für vollständige Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzen.

Angebote an fast alle

Große Internetkonzerne sollen nach ihrem Willen in Europa stärker besteuert werden. „Es ist nicht akzeptabel, dass sie Profite machen und keine Steuern zahlen“, sagte sie. Die Aussagen waren als Zugeständnisse vor allem an die sozialdemokratische Fraktion verstanden worden.

Ihnen stellt sie auch eine europäische Arbeitslosenrückversicherung in Aussicht, für Christdemokraten und Konservative ist ein rascher Ausbau der Grenzschutztruppe Frontex und ein neuer Anlauf für ein europäisches Asylrecht im Angebot, für Italiener eine flexible Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.

Doch auch an Liberale und Grüne machte von der Leyen Angebote. Als die Sozialdemokraten und Liberale am Nachmittag nach jeweiligen Sitzungen für ihre Wahl aussprachen, schien die Abstimmung fast nur noch Formsache zu sein. Doch sie fiel dann überraschend knapp aus – wohl weil viele noch erbost waren, dass die Kandidatin Anfang Juli über ihre Köpfe hinweg von den Staats- und Regierungschefs ausgewählt wurde und die Spitzenkandidaten der EU-Wahl übergangen wurden.

Ursula von der Leyen wird EU-Kommissionspräsidentin

Ursula von der Leyen wird Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker an der Spitze der Europäischen Kommission. 383 Abgeordnete haben für sie gestimmt, 327 gegen sie.

Abstimmung geheim

Die Wahl fand geheim statt, damit ist anders als bei anderen Abstimmungen im Europaparlament nicht dokumentiert und nachvollziehbar, wer wie gestimmt hat. Grüne und Linke hatten ebenso wie die rechte Fraktion Identität und Demokratie (ID), der die FPÖ angehört, im Vorfeld bereits beschlossen, von der Leyen nicht zu wählen. Bei den Sozialdemokraten hatte es geheißen, rund zwei Drittel der und 150 Abgeordneten würden für von der Leyen stimmen. Gegenstimmen waren von SPÖ und SPD angekündigt worden, letztere sorgten auch am Wahlabend für die nächsten Verwerfungen in der deutschen Großen Koalition.

Europaexperte zur Wahl von der Leyens: „Jetzt müssen Taten folgen“

Paul Schmidt, Generalsekretär der Gesellschaft für Europapolitik, über die Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin und ihre politischen Vorhaben.

Laut eigener Aussage stimmten die 16 deutschen SPD-Abgeordneten gegen von der Leyen. Die Ablehnung der SPD wird ein Nachspiel in der deutschen Regierungskoalition haben. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte in einem ARD-Interview am Dienstag an, dass sie mit den Sozialdemokraten darüber sprechen wolle: „Die Sozialdemokraten müssen jetzt den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland erklären, warum sie an diesem Tag für jemanden aus der eigenen Regierung, aus der Großen Koalition nicht die Hand heben konnten.“

PiS stellt Forderungen

Etliche Abgeordnete quer durch alle Coleurs kündigten an, die neue Kommissionschefin beim Wort zu nehmen. Von der Leyen kann also damit rechnen, dass ihre Versprechungen ab ihrem Amtsantritt am 1. November durchaus ernst genommen werden. Eine deutliche Wortmeldung kam nach der Wahl auch aus Polen: Die nationalkonservative polnische Regierungspartei PiS spielte nach eigener Einschätzung eine entscheidende Rolle. Der Europaabgeordnete Tomasz Poreba schrieb auf Twitter, ohne die Stimmen der PiS wäre der Sieg der deutschen CDU-Politikerin nicht möglich gewesen.

Fritz (ORF) zur Wahl von Ursula von der Leyen

ORF-Korrespondent Peter Fritz in Brüssel über die Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin.

Es sei nun Zeit für eine neue Qualität der Arbeit der EU-Kommission ohne Doppelmoral und politisches und ideologisches Einschreiten in die ausschließlichen Kompetenzen der EU-Länder. Mit seinen Äußerungen zur Qualität der Arbeit der EU-Kommission spielte Poreba offensichtlich darauf an, dass die derzeitige Kommission Polen wegen umstrittener Justizreformen vor den Europäischen Gerichtshof gebracht hat.

„Fühle mich so geehrt“

Die designierte Kommissionspräsidentin bedankte sich nach ihrer Wahl bei ihren Unterstützern und rief Kritiker zur Zusammenarbeit auf. „Meine Botschaft an alle von Ihnen lautet: Lasst uns konstruktiv zusammenarbeiten“, sagte sie nach der Abstimmung. Ziel müsse „ein geeintes, ein starkes Europa sein“.

Zu ihrer Wahl sagte von der Leyen: „Ich fühle mich so geehrt und ich bin überwältigt und bedanke mich für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben.“ Die vor ihr liegenden Aufgaben erfüllten sie mit Demut. „Das ist eine große Verantwortung, und die beginnt jetzt“, sagte sie in dem kurzen, in englischer Sprache gehaltenen Redebeitrag.

EU-Abgeordnete im EU-Parlament
AP/Jean-Francois Badias
Die Abgeordneten bei der Wahl

Zudem betonte sie angesichts des knappen Wahlergebnisses: „In der Demokratie ist die Mehrheit die Mehrheit.“ Es sei gelungen, eine proeuropäische Mehrheit zu formieren. Vor zwei Wochen, direkt nach ihrer Nominierung durch die Staats- und Regierungschefs, hätte sie vermutlich noch keine Mehrheit gehabt.

Zahlreiche Glückwünsche

Nach der Wahl trudelten umgehend Glückwünsche ein: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gratulierte in einem dreisprachigen Tweet – Französisch, Deutsch und Englisch. „Endlich steht die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission“, schrieb der Luxemburger. „Dieser Job ist eine riesige Aufgabe und eine Herausforderung. Ich bin sicher, dass Sie eine großartige Präsidentin werden. Willkommen zu Hause!“ Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb auf Twitter: „Heute hat Europa Ihr Gesicht.“ Es sei das Gesicht des Engagements, Ehrgeizes und Fortschritts. „Wir können stolz auf Europa sein.“

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sprach von einem „historischen Tag für Europa“. Von der Leyen sei die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission und die erste Deutsche seit mehr als 50 Jahren, schrieb sie auf Twitter. Sie komme aus der politischen Mitte, baue Brücken und streite für die Einheit Europas. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte von der Leyen eine enge Zusammenarbeit zu. „Auch wenn ich heute eine langjährige Ministerin verliere, gewinne ich eine neue Partnerin in Brüssel.“