Niederländische Polizisten
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Niederlande

Flüchtiger Drogenboss als Phantom

Der meistgesuchte Mann der Niederlande ist ein Phantom: Bis vor einigen Jahren wussten die Behörden nicht von seiner Existenz und seiner Rolle. Jetzt gilt Ridouan Taghi als mutmaßlicher Kopf einer international agierenden Drogenbande. Ein Prozess gegen 16 Mitglieder wird derzeit vorbereitet. Fünf Morde und etliche andere Delikte umfasst die Anklageschrift, die sich ständig ausweitet. In den Ermittlungen wurde nun klar, dass die Bande ein dichtes Netz von Informanten bei der Polizei hatte.

Die Vorbereitungen auf den „Marengo-Prozess“ begannen im vergangenen Jahr mit zwei Verdächtigen, mittlerweile sind es 16. „Eine gut geölte Tötungsmaschine“ nennt die Staatsanwaltschaft die kriminelle Vereinigung. In den Augen der Justiz ist der mutmaßliche Boss der Gruppe ein skrupelloser, international operierender Drogenmultimillionär. Für ihn und seine Schergen „ist ein Menschenleben nichts wert“, so die Staatsanwaltschaft.

Bisher werden der Bande fünf Morde zwischen 2015 und 2018 vorgeworfen. Die Opfer sind vor allem Männer aus den eigenen Reihen, die verdächtigt wurden, mit der Polizei gesprochen zu haben. „Wer redet, geht“, zitieren niederländische Medien die Parole der Gang. Und „gehen“ heißt: sterben. Ein anderer Ermordeter wollte angeblich seine Schulden nicht begleichen. Zahlreiche weitere Bluttaten – auch außerhalb der Niederlande – werden mit der kriminellen Vereinigung in Verbindung gebracht.

Bandenmitglied wurde nach Verwechslung Kronzeuge

2016 wurde in Utrecht ein Mann auf offener Straße erschossen, der mit der Bande gar nichts zu tun hatte: Ein Freund von ihm war in illegale Machenschaften verwickelt und war mit der Polizei in Kontakt. 2017 fiel erneut ein offenbar Unschuldiger der Bande zum Opfer. Ein 31-Jähriger wurde ebenfalls in Utrecht erschossen, Ziel war laut Ermittlern ein Mitbewohner.

Die Verwechslung brachte die Ermittlungen ins Rollen: Ein Mitglied der Gang, das auch an mehreren Morden beteiligt war, wechselte die Seiten, da der Erschossene in Utrecht ein Bekannter von ihm war. Nabil B. ging zur Polizei und wurde zum Kronzeugen. Und er packte über die Struktur der Marengo-Bande aus – obwohl sein Bruder sechs Wochen später ermordet wurde. 1.500 Seiten sollen seine Aussagen bisher umfassen.

Polizisten an einem Tatort
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Der Bruder des Kronzeugen, ein unbescholtener Familienvater, wurde im März 2018 in Amsterdam ermordet

Schon 2009 untergetaucht

Mit den Aussagen und der Hilfe von abgefangenen verschlüsselten Nachrichten, die erst nach und nach decodiert werden konnten, erkannten die Behörden langsam Taghis Rolle. Er galt zuvor als unbeschriebenes Blatt: Marokkanischer Abstammung, wuchs er in der Kleinstadt Vianen bei Utrecht auf. Erst 2015 tauchte sein Name erstmals in einem Polizeibericht auf, bei Ermittlungen gegen eine Bande aus der Stadt Nieuwegein. Der Name des Strafverfahrens, „26Koper“, sollte bald zur Chiffre eines der drängendsten Kriminalfälle des Landes werden.

Langsam setzten Behörden und Medien das Puzzle seiner Existenz zusammen. Er soll eine lukrative Haschischschmuggelroute von Familienmitgliedern übernommen haben. Als er dann zum Kokainhandel wechselte, kam das große Geld herein. Seine Drogenroute soll von Panama über Marokko und Spanien in die Niederlande verlaufen. Wo er sich aufhält, weiß man schon lange nicht mehr. Seinen offiziellen Wohnsitz in den Niederlanden hatte er bereits 2009 aufgegeben. Er soll Villen in Spanien, Marokko, Dubai und der Dominikanischen Republik besitzen.

100.000 Euro Prämie ausgesetzt

Seit dem Vorjahr stehen Taghi und Said Razzouki, der seine rechte Hand sein soll, auf der Liste der meistgesuchten Männer der Niederlande. Auch auf der „Most Wanted“-Liste von Europol ist er zu finden. 100.000 Euro Belohnung für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen, sind ausgeschrieben. Vergangene Woche veröffentlichte die Polizei neue Fahndungsbilder der beiden. Laut niederländischen Medien vermuten die Behörden den Gesuchten derzeit in Dubai.

Im Marengo-Prozess, der sich laut Beobachtern noch Jahre ziehen wird, ist er trotz Abwesenheit ebenfalls angeklagt. Seine Anwältin Inez Weski, sie gilt als eine der prominentesten und profiliertesten Verteidigerinnen des Landes, nennt bisher sämtliche Vorwürfe absurd.

Höchste Brutalität

Die Taghi zugeordneten abgefangenen Nachrichten strotzen vor Brutalität und Spott über die Opfer, berichten Medien. In Spanien soll er seinen eigenen Schwager töten haben lassen. Und offenbar geht er mit höchster Brutalität auch gegen alle vor, die über ihn berichten. 2016 wurde der ehemalige Kriminelle und Kriminalblogger Martin Kok erschossen. Er hatte über Taghi geschrieben. Im September soll laut Staatsanwaltschaft der Fall in die Anklageschrift des Marengo-Prozesses integriert werden.

Spekuliert wird auch, ob der mittlerweile 41-Jährige hinter zwei Anschlägen auf Medien steckt: Im Juni 2018 raste ein Lieferwagen in der Nacht in die gläserne Außenfassade des Verlagsgebäudes des „Telegraaf“. Das Auto explodierte, die Fahrer flüchteten. Es entstand hoher Sachschaden. Wenige Tage zuvor wurden die Redaktionsräume der Zeitschriften „Panorama“ und „Nieuwe Revu“ mit Panzerfäusten beschossen. Als Täter wurden Motorradrocker ausgemacht, das Motiv blieb unklar. „Telegraf“ und „Panorama“ hatten ausführlich über Taghi berichtet.

Ausgebranntes Auto im Gebäude der Zeitung „De Telegraaf“ in Amsterdam
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Der Anschlag auf das Redaktionsgebäude des „Telegraaf“

Zahlreiche Polizisten suspendiert

Ein Grund dafür, dass die Bande lange Zeit fast ungestört agieren konnte, ist, dass sie in der niederländische Polizei offenbar ein dichtes Informantennetz hatte. Vor zwei Wochen wurde ein hochrangiger Beamter in Utrecht suspendiert. Und das ist kein Einzelfall: In den vergangenen Wochen und Monaten wurden laut der Zeitung „AD“ schon „Dutzende“ Polizisten wegen Verstößen – unter anderem gegen das Amtsgeheimnis – außer Dienst gestellt.

In Limburg wurden vier Polizisten, davon ein leitender Beamter, suspendiert, bei der Amsterdamer Polizei waren es innerhalb kurzer Zeit sieben. Laut einem internen Polizeibericht könnte das nur die „Spitze des Eisbergs“ sein, berichtete „AD“.