Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj
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Ukraine-Wahl

Diener des Volkes rittert um Machtbasis

Seit zwei Monaten steht der ehemalige TV-Komiker Wolodymyr Selenski als Präsident an der Spitze der Ukraine. Bisher hatte der Newcomer kaum Handlungsspielraum, weil seine Partei nicht im Parlament vertreten war. Damit sich das möglichst rasch ändert, gibt es vorgezogene Parlamentswahlen – der Sonntag ist für Selenski und seine Partei Diener des Volkes wegweisend.

Zentral geht es um die exorbitanten Erwartungen an den Präsidenten – erfüllen kann er diese nur mit Mehrheiten im Parlament. Bereits vor seiner Angelobung zeigten Umfragen, dass sich fast 40 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer binnen 100 Tagen deutlich niedrigere Strom- und Gaspreise wünschen. Ein Drittel will ein schärferes Vorgehen gegen Korruption. Die meisten wollen ein Ende des Krieges in der Ostukraine.

Bisher ist Selenski in der Obersten Rada mit allen Gesetzesvorstößen abgeblitzt. Um handlungsfähig werden zu können, verkündete er bereits bei seiner Angelobung vorgezogene Parlamentswahlen. Das Timing ist auch in anderer Hinsicht wichtig, schließlich verfügt der ehemalige Präsidentendarsteller einer TV-Serie und nunmehrige Präsident noch über hohe Beliebtheitswerte, für deren Erhalt wiederum auch politische Taten unerlässlich sind.

Vierzig plus erwartet

Dabei kann die Partei Diener des Volkes, ein Polit-Spin-off der vormals gleichnamigen TV-Politserie (eine Art humoristisches „House of Cards“ mit ukrainischem Lokalkolorit), auf ein Rekordergebnis hoffen. Zwar litt die Zustimmung für die Partei zuletzt ein wenig, doch können sich laut Umfragen noch immer weit über 40 Prozent für Selenskis Partei erwärmen – zwischenzeitlich lag der Wert gar bei sagenhaften 48,2 Prozent.

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt seine Stimme ab
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Selenski bei der Stimmabgabe – seine Partei kann mit einem hohen Sieg rechnen

Das wäre der größte Zuspruch, den eine Partei in der jüngeren Geschichte der Ukraine bei einer Parlamentswahl erreichten konnte. Noch immer wirkt die Serienrolle Selenskis als Wasyl Holoborodko als glaubhaftes und sympathisches Ideal eines Politikers nach. Es geht um einen einfachen Bürger, der praktisch durch Zufall Präsident wird und sich naiv, aber dafür passioniert gegen Korruption einsetzt. Eine neue Figur mit klaren Versprechungen – der Grund für den Erfolg in der echten Politik.

Gegner an Formierung hindern

Auch soll die Wahl Selenskis Gegner daran hindern, sich zu formieren – allen voran die ebenso neu gegründete westlich-liberale Partei Stimme von Swjatoslaw Wakartschuk, seines Zeichens Sänger der international erfolgreichen ukrainischen Rockband Okean Elsy. Die Partei lag zwischenzeitlich bei acht Prozentpunkten. Bei über zehn Prozent liegt die prorussische Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ von Ex-Präsidialamtschef Viktor Medwedtschuk.

Russlands Präsident Vladimir Putin und der ukrainische Oligarch Wiktor Medwedtschuk
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Medwedtschuk mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in St. Petersburg – ein Sinnbild der politischen Agenda

Es zeichnet sich also eine starke Regierung bzw. eine schwache Opposition ab – mit einer absoluten Mehrheit wäre Selenski in der Lage, praktisch jedes denkbare Gesetz durchzubringen. Doch steht Diener des Volkes bei den Allmachtsfantasien eines im Weg: die Erststimmen. 225 der 424 Abgeordneten kommen über Parteilisten ins Parlament, 199 werden in den Wahlkreisen direkt gewählt. Ein System, das aufgrund von Abhängigkeiten auf regionaler Ebene als korruptionsbehaftet gilt.

Neue Gesichter im Fokus

Viele Parteien setzen auf neue Gesichter: So wird etwa bei Diener des Volkes mit der Auflage auf Stimmenfang gegangen, dass die Partei niemanden aufstellt, der schon einmal im Parlament gesessen ist. Mittels möglicher Onlinebewerbungen auf der Website sollen Bürgerinnen und Bürger in die Partei gelotst werden – so zumindest das Versprechen: überzeugende Bewerberinnen und Bewerber würden kontaktiert, hieß es.

Das Aufsehen um die scheinbar bürgernahe Aktion ist jedenfalls groß – das positive Echo übertönt Skandale um das Auswahlverfahren rund um angebliche Geldflüsse für Listenplätze. Nach Meinung von Sergej Sumlenny vom Kiewer Büro der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung ein Hinweis darauf, dass ein Listenplatz als enorm erfolgversprechend gesehen wird – freilich aber auch als ein Einfallstor für Opportunistinnen und Opportunisten, wie selbst Listengründer Selenski eingestehen musste.

Ukrainischer Politiker Swjatoslaw Wakartschuk
AP/Efrem Lukatsky
Der Sänger Swjatoslaw Wakartschuk nützt Konzerte seiner Band Okean Elsy als zentrales Wahlkampfvehikel

„Ein bisschen“ Betrug

Seine Partei habe nicht ausreichend Zeit gehabt, alle Kandidatinnen und Kandidaten zu überprüfen, so Selenski. So könne es wohl sein, „dass es auch unehrlichen Personen gelungen ist, uns ein bisschen zu betrügen“. Interessant auch der geplante Umgang der Partei mit dem befürchteten Problem: So sei es wohl Aufgabe der Medien, solche Personen – im besten Fall immerhin in Kürze Mandatarinnen und Mandatare – zu entlarven.

Doch Machtfantasien geben sich nicht nur die mutmaßlich vielen Opportunisten der Selenski-Partei hin: Ruslan Stefantschuk, hauptverantwortlich für des Wahlprogramm, sprach sich in einem Interview mit der Deutschen Welle für eine „Monopartei“ aus. Das erste Mal seit der Unabhängigkeit vor 28 Jahren solle es im besten Fall „einen einzigen Verantwortlichen für die Lage im Land geben“, so Stefantschuk, der – wenig verwunderlich – auf die Absolute hofft.

Drei Varianten

Diener des Volkes will also nach Möglichkeit groß umbauen und würde damit die Demokratie auf eine harte und vermutlich auch dauerhafte Probe stellen. Trotz der Befürchtungen um das Aushöhlen der demokratischen Institutionen im Land scheint es aber dennoch am wahrscheinlichsten, dass die Partei auf einen Koalitionspartner angewiesen sein wird.

Ukrainische Ex-Premierministerin Julia Timoschenko
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Timoschenko tritt mit der Partei Vaterland wieder an

Drei Parteien können sich Hoffnungen machen – allesamt liegen sie in Umfragen zwischen fünf (der Hürde für den Einzug) und zehn Prozent: Neben der prorussischen „Oppositionsplattform – Für das Leben“ könnten auch zwei Altbekannte eine Rolle spielen: zum einen die konservative bzw. EU-freundliche Partei Vaterland von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, zum anderen die Europäische Solidarität mit Selenski-Vorgänger Pedro Poroschenko bzw. Vitali Klitschko.

„Professioneller Ökonom“ als Premier

Bei seiner Stimmabgabe am Sonntag wurde Selenski in Bezug auf den künftigen Premierminister konkret: „Er muss ein professioneller Ökonom sein. Ich möchte, dass das ein unabhängiger Mensch ist, jemand, der nie Premierminister, Parlamentspräsident oder Fraktionsführer im Parlament war“, erklärte der Präsident. Er führe auch schon diesbezügliche Konsultationen, bestätigte er. Im Fall einer Koalition würde er darauf bestehen, dass es sich bei seinen Partnern um „neue Gesichter“ handle.

Krieg und Oligarchen

Eine sehr große Hoffnung ist mit Selenskis politischem Wirken jedenfalls verbunden: So hatte er immer wieder angekündigt, den bereits seit fünf Jahren andauernden Krieg in der Ostukraine so rasch wie möglich zu beenden. Bei den Kämpfen zwischen ukrainischer Armee und den aus Russland unterstützten Separatisten im Donbass sind nach Einschätzung der Vereinten Nationen bisher 13.000 Menschen ums Leben gekommen. Für den Wahlsonntag wurde eine Waffenruhe vereinbart – sie schien in den ersten Stunden auch zu halten.

Selenskis Geschick ist auch gefragt im Umgang mit den mächtigen ukrainischen Oligarchen, die seit Langem im Hintergrund die Fäden ziehen und etwa über TV-Sender die öffentliche Meinung prägen. In einem Facebook-Video kündigte er im Stil seiner ehemaligen TV-Rolle wieder neue Spielregeln an. Schon mehrfach hat er die prominenten Milliardäre Igor Kolomoiski, Rinat Achmetow und Viktor Pintschuk aufgefordert, überall im Land zu investieren – vor allem aber in der kriegsgeschwächten Ostukraine. Garantien erhielt er jedoch bisher nicht.