Ein Willkommensgruß in Norton, Virginia
Reuters/Brian Snyder
Krise in den USA

Ein Tal, mit Opioiden überschwemmt

Die Opioidkrise hat die USA fest im Griff. Nach wie vor sterben Tag für Tag Dutzende Menschen an einer Überdosis verschreibungspflichtiger Schmerzmittel oder sie gleiten in die Sucht nach anderen Drogen ab. Dass manche Gegenden in den vergangenen Jahren regelrecht mit Opioiden überschwemmt wurden, hat nun eine Recherche der „Washington Post“ ergeben. Mit der Stadt Norton hat sie dabei ein „Epizentrum“ gefunden.

Diese Woche musste die US-Drogenbehörde nach einer Klage der „Washington Post“ und des Medienkonzerns HD Media zum ersten Mal Aufzeichnungen veröffentlichen, die den Weg jedes verkauften Schmerzmedikaments in den USA zwischen 2006 und 2012 nachzeichnen. Die „Washington Post“ hat die Daten analysiert und die Verbreitung von insgesamt 76 Milliarden Pillen mit den Wirkstoffen Oxycodon und Hydrocodon in den USA verfolgt.

Dabei entpuppte sich die Stadt Norton im US-Bundesstaat Virginia, aber auch das Tal rundherum als eines der Zentren der Opioidkrise. Nirgendwo in den USA wurden demzufolge mehr Pillen pro Person verschrieben als in der rund 4.000 Menschen großen Ortschaft. Durchschnittlich 306 Pillen pro Einwohner und Jahr gelangten in den Umlauf.

3,5 Millionen Pillen für Walmart

3,5 Millionen Pillen gingen an die örtliche Walmart-Filiale, 1,3 Mio. weitere an den Pharmaziehändler CVS. Dazu kommt, dass der Ort ein medizinisches Zentrum für die umliegende Gegend ist – es gibt zwei Spitäler. Laut dem Bericht werden Opioide in der Region mit großer Leichtfertigkeit verschrieben. „Du hast Rückenschmerzen, und auf einmal hast du Opioide in der Hand“, so ein Mann gegenüber der „Washington Post“.

Opioid-Pillen
AP/Mark Lennihan
Leichtfertiger Einsatz von Schmerzmitteln hat in den USA zu einer regelrechten Opioidepidemie geführt

Zwar soll es in der Ortschaft in den vergangenen Jahren nur wenige Todesfälle durch Überdosen gegeben haben. Wie überall in den USA kämpft aber auch Norton damit, dass Menschen von der Opioidabhängigkeit tiefer in die Sucht nach Drogen wie Heroin oder Crystal Meth abgleiten. Die Gefängnisse seien voll, und immer mehr Kinder müssten aufgrund der Drogensucht ihrer Eltern von ihren Großeltern oder Pflegeeltern aufgezogen werden, so der Bericht.

Viel Armut im einstigen Kohlegebiet

Wurzel des Problems ist auch die ökonomische Situation der Stadt: Einst war sie ein Zentrum des Kohleabbaus, doch heute können die verblieben Bestände tief in der Erde nicht mehr gewinnbringend gefördert werden. Das Gesundheitswesen als Wirtschaftszweig verschärft die Opioidproblematik. Und die Armut ist hoch: Beim letzten Zensus aus dem Jahr 2000 befanden sich 20 Prozent der Einwohner unter der Armutsgrenze. So wie Norton geht es vielen ärmeren, ländlichen Gebieten der Region.

Eine Teilschuld an der aktuellen Lage gibt man dort auch der Opioidkrise. Im vergangenen Jahr schlossen sich Norton und das umliegende Wise County einer Klage gegen Pharmazieunternehmen an. Sie wollen Millionen Dollar an Entschädigung. USA-weit gibt es mittlerweile Tausende solcher Klagen.

Auch zu den Opioidproduzenten hat die „Washington Post“-Analyse neue Fakten ergeben: Herausgestellt hat sich etwa, dass in den untersuchten sieben Jahren nur drei Hersteller 88 Prozent aller Opioide produziert haben. Sechs Unternehmen waren für die Verbreitung von drei Vierteln aller Opioide verantwortlich. Deutlich zeigen die Zahlen, dass die Verbreitung der Opioide in dem beobachteten Zeitraum von 2006 bis 2012 kontinuierlich gestiegen ist. Während im Jahr 2006 noch 8,4 Milliarden Pillen im Umlauf waren, stieg die Zahl bis 2012 auf 12,6 Mrd.

Fataler Glauben an Unschädlichkeit

Begonnen hat die Ausbreitung der Opioidtherapie in den 1990er Jahren: Eine kurzfristige Einnahme führe nicht zur Abhängigkeit und sei harmlos, hieß es damals. Ungereimtheiten wie fehlende klinische Studien wurden vernachlässigt.

Das Medikament Oxycontin etwa wurde von dem Konzern Purdue Pharma jahrelang als völlig unbedenklich vermarktet – Hauptprofiteur war der Konzerninhaber, die steinreiche US-Familie Sackler. Mittlerweile laufen etliche Verfahren gegen die Sacklers. In einem ersten Vergleich akzeptierte das Unternehmen vor Kurzem seine Rolle in der grassierenden Drogenkrise und stimmte einer Zahlung von 270 Mio. Dollar zu.

Druck auf Sackler-Familie

Purdue und die Sackler-Familie haben Anschuldigungen, die Suchtgefahren von Oxycontin verschleiert und das Schmerzmittel mit rücksichtslosen und dubiosen Vertriebsmethoden auf den Markt gedrückt zu haben, stets abgestritten. Doch der Druck wird immer größer. Zuletzt sorgte für Schlagzeilen, dass der Louvre in Paris die Zusammenarbeit mit der einstigen Mäzenenfamilie beendet hat.

Demonstranten vor dem Louvre
APA/AFP/Stephane de Sakutin
Proteste vor dem Louvre

Unterdessen ergaben neue Daten, dass die Zahl der Drogentoten in den USA 2018 zum ersten Mal seit 20 Jahren zurückgegangen ist. Starben 2017 demzufolge mehr als 72.200 Menschen an einer Überdosis, waren es im vergangenen Jahr nur noch knapp 68.600.

Dieser Wert liegt aber deutlich höher als im Jahr 1999, als knapp 16.850 Menschen an einer Überdosis starben. Seitdem stieg die Opferzahl in jedem Jahr an. Der Leiter der US-Gesundheitsbehörde HHS, Alex Azar, erklärte, die jüngsten Zahlen würden die Wirksamkeit des Kampfes gegen die Opioidkrise und Drogenabhängigkeit im Allgemeinen zeigen. Er warnte zugleich, mit einem schnellen Ende der Krise sei nicht zu rechnen.