Der ukrainische Präsident Wolodymyr Seliniski
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Ukraine

Ein Wahlsieg, der Gefahren birgt

Die neue Partei Diener des Volkes ist die große Gewinnerin der Parlamentswahl in der Ukraine. Für Präsident Wolodymyr Selenski wurde mit der absoluten Mehrheit eine beachtliche Machtbasis geschaffen. Doch während Trubel über das überwältigende Ergebnis herrscht, drängen hohe Erwartungen auf Selenski und seine vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu. Es ist ein Wahlsieg, der Gefahren birgt.

Das Abschneiden der Selenski-Partei übertrifft selbst die gewagtesten Prognosen: „Es ist eine völlige Überraschung, dass die Partei in so vielen Wahlkreisen gewonnen hat“, zeigte sich Wolodymyr Fesenko, Analyst des Thinktanks Penta, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters überrascht. Besonders über diese erfolgreiche Direktwahl von Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkreisen gelang es, mehr als die Hälfte der Sitze in Parlament zu erringen.

Auf Koalitionspartner ist Diener des Volkes also demzufolge nicht angewiesen. Aus dem Stand konnten alle wesentlichen Strukturen der politischen Macht im Land übernommen werden: Zunächst deklassierte Selenski den nunmehrigen Ex-Präsidenten Pedro Poroschenko, zwei Monate nach seiner Angelobung stellt Selenski nun mit seiner Partei die absolute Mehrheit im Parlament. Es kam, als wäre alles einem Drehbuch zur Ablöse von politischen Eliten gefolgt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Seliniski
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Eine schallende Ohrfeige für die bisherigen politischen Eliten – Selenski und seine Gefolgsleute feiern das Resultat

Politisch unerfahren und nicht profiliert

Das trifft gewissermaßen auch zu: Vor seiner Politkarriere mimte Selenski die Rolle des Politikers als Schauspieler – über eine TV-Serie, eine Art humoristisches „House of Cards“ mit ukrainischem Lokalkolorit, wurde er rasch populär. Und weil die Wut auf die politischen Eliten im Land so enorm groß ist, sahen sehr viele in der Filmfigur, die vom Lehrer zum Präsidenten avanciert und der Korruption den Kampf ansagt, eine reale Lösung für das Land.

Und die vielen neuen Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die der Partei des 41-jährigen Hoffnungsträgers Selenski in Scharen zuströmten, wurden gerade aufgrund ihrer mutmaßlichen politischen Unbefangenheit gewählt – schließlich war es Voraussetzung für eine Kandidatur, zuvor noch nie im Parlament gesessen zu sein. Das verhalf der Partei Diener des Volkes letztlich auch zu absolut gewinnbringender Strahlkraft.

Doch der Umstand bringt es mit sich, dass sie alle – wie auch Selenski selbst – politisch völlig unerfahren und nicht profiliert sind. Ein Risiko, das der Präsident und seine engsten Gefolgsleute bewusst in Kauf nahmen, um sich glaubhaft von den alten Eliten abzugrenzen. So ist auch nicht klar, ob bei all den Newcomern so etwas wie eine gemeinsame politische Linie entlang der derzeit zur Schau gestellten proeuropäischen Haltung überhaupt ein realistisches Konzept sein kann.

Selenski muss liefern

Dabei müssen Selenski und seine vielen Emporkömmlinge jetzt liefern – schließlich stehen vollmundige Versprechen im Raum, die wohl nicht so einfach in Vergessenheit geraten werden. Dazu zählen ein effektiver Kampf gegen Korruption und nichts Geringeres als die Beendigung des Krieges in der Ostukraine und damit verbunden Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Gefolgsleuten, also den personifizierten Gegenteilen von unerfahrenen Newcomern.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Seliniski
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Auf Selenski (M.) und seinen vielen Newcomern ruhen enorm hohe Erwartungen

Angesichts von gut 250 „neuen Gesichtern“ im Parlament und unbekannten Entscheidungsmechanismen von Selenski bleibt einstweilen unklar, ob dieser in der Ukraine beispiellose Machtwechsel die hohen Erwartungen befriedigen kann oder sich rasch wieder Frustration breitmacht. Selenski hat jedenfalls mehr oder minder freie Hand, Reformen zu beschließen. Nur für Verfassungsänderungen muss es im Bedarfsfall Absprachen mit anderen Parteien und Gruppen geben.

„Unehrlichen Personen“ aufgesessen?

Doch ist auch noch völlig unklar, wie die eigenen Parlamentarierinnen und Parlamentarier politisch positioniert sind und ob Loyalität ein Wert ist, an dem sich alle orientieren. Es handelt sich um völlig unerfahrene Persönlichkeiten, die binnen kürzester Zeit ausgewählt wurden. Bereits im Vorfeld machten Geschichten die Runde, wonach es in vielen Fällen Geldflüsse für Listenplätze gegeben haben soll. So musste selbst Selenski eingestehen, dass man wohl auch „unehrlichen Personen“ aufgesessen ist.

Ob der vollzogene Generationswechsel – viele neue Mandatarinnen und Mandatare sind unter 40 – zu einem Bruch mit politischen Traditionen von Korruption und schlechter Verwaltung führen wird, bleibt deshalb offen. Auch bleibt abzuwarten, ob es die vehement angekündigte Reform des Wahlrechts auch wirklich geben wird. Das derzeitige gilt als äußerst anfällig für Korruption – der Direktwahl von Kandidaten gingen undurchsichtigen Auswahlkriterien voraus.

Der ukrainische Ex-Präsident Pedro Poroschenko
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Selenski muss zeigen, dass er einen vollkommen anderen Stil verfolgt als sein Vorgänger Petro Poroschenko (im Bild)

Mächtige Oligarchen

Selenskis Geschick ist auch gefragt im Umgang mit den mächtigen ukrainischen Oligarchen, die seit Langem im Hintergrund die Fäden ziehen und etwa über TV-Sender die öffentliche Meinung maßgeblich prägen. Im Wahlkampf hatte Selenski im Stil seiner ehemaligen TV-Rolle wieder neue Spielregeln für die betreffenden Personen angekündigt.

Schon mehrfach forderte er die prominenten Milliardäre Igor Kolomoiski, Rinat Achmetow und Wiktor Pintschuk auf, überall im Land zu investieren – Garantien erhielt er jedoch bisher nicht. Auch über die Glaubwürdigkeit lässt sich streiten – zumindest gewiss in einem Fall: Milliardär Kolomoiski war Selenskis wichtigster Wahlhelfer, schließlich liefen auf dessen TV-Sender Selenskis Comedy-Shows.