Der designierte britische Premier Boris Johnson
AP/Frank Augstein
Johnson folgt May

„Showman-Premier“ auf Kollisionskurs

Der polarisierende Brexiteer Boris Johnson übernimmt nach seiner Wahl am Mittwoch offiziell das Amt des britischen Premiers. Ihm soll nun gelingen, woran seine Vorgängerin Theresa May scheiterte: die eigene Partei einen, die Torys bei der Wählerschaft rehabilitieren und den finalen Brexit-Akt im Herbst über die Bühne bringen. Manche Beobachter spekulieren bereits über den Anfang vom Ende des „Showman-Premiers“.

Dass Johnson – und nicht sein Herausforderer, der amtierende Außenminister Jeremy Hunt – am Dienstag von der konservativen Parteibasis zum neuen Tory-Parteichef und damit auch zum neuen Premier gewählt wird, bezweifelte im Vorfeld hingegen kaum jemand. Zum Verhängnis könnte Johnson nun aber jener Umstand werden, der ihn überhaupt erst an die Spitze der britischen Regierung katapultiert hat: das drei Jahre andauernde Brexit-Chaos.

Gleich an mehreren Fronten ist die Situation verfahren – allen voran im britischen Unterhaus. Im Parlament, wo die Regierung derzeit nur eine Mehrheit von drei Stimmen hat, herrscht nur wenige Monate vor dem geplanten Austritt aus der EU am 31. Oktober nach wie vor Uneinigkeit. Größter Streitpunkt ist der „Backstop“, jene Notlösung, mit der im Falle keiner Einigung mit der EU die offenen Grenzen zwischen Irland und Nordirland sichergestellt werden sollen.

May hatte das Austrittsdatum zweimal verschoben, weil sie mit ihrem mit der EU ausgehandelten Brexit-Deal im Londoner Parlament dreimal gescheitert war. Wenngleich sich die Abgeordneten gegen Mays Deal sperrten, lehnen sie auch einen „No Deal“-Brexit ab.

Jeremy Hunt und Boris Johnson
Reuters/Toby Melville
Johnson erhielt rund 92.000 Stimmen der Tory-Mitglieder, sein Rivale Hunt bekam rund 47.000

„Brexit – komme, was wolle“

Johnson, den die Zeitung „The Times“ ob seiner zahlreichen exzentrischen sowie tollpatschigen Auftritte als „Showman-Premier“ bezeichnete, hatte wiederum angekündigt, im Fall seines Sieges Großbritannien am 31. Oktober aus der EU zu führen – „komme, was wolle“. Am Dienstag erneuerte er in seiner Rede das Versprechen, dass nun der „Geist des Erledigenwollens“ herrsche. Er erwog zuletzt auch, sich über die Abgeordneten hinwegzusetzen und das Parlament rund um den 31. in Zwangspause zu schicken – was dieses daraufhin per Gesetz erschwerte.

Berichte aus Brüssel und London

Über Boris Johnson als Nachfolger von Theresa May und die entsprechenden Reaktionen in Brüssel berichten Raffaela Schaidreiter in Brüssel und Eva Pöcksteiner in London.

Zum Showdown dürfte es erst nach der mehrwöchigen Sommerpause des Parlaments im September oder im Oktober kommen. Die Abgeordneten müssten die Kontrolle über den Parlamentskalender an sich reißen und die Regierung per Gesetz zu einer weiteren Verschiebung des EU-Austritts zwingen. Gelänge das nicht, bliebe den proeuropäischen Rebellen in der Tory-Fraktion nur noch, ihre eigene Regierung zu stürzen.

Um aus der verfahrenen Situation noch herauszukommen, muss dem neuen Premier ein Kunststück gelingen: Neben der Versöhnung der eigenen tief gespaltene Partei, muss er Abgeordnete der nordirischen DUP – mit der die Torys eine Minderheitsregierung bilden – von seinem Kurs überzeugen. Die DUP hatte Mays Brexit-Deal wegen der Regelungen zur nordirischen Grenze abgelehnt.

Tiefe Risse

Parteiintern kündigten aufgrund des Führungswechsels unterdessen mehrere Torys ihren Rücktritt an. Unter anderem wollen sich Entwicklungshilfeminister Rory Stewart, Justizminister David Gauke, die Tory-Abgeordnete Anne Milton und der Außenstaatssekretär Alan Duncan zurückziehen. Auch Finanzminister Philip Hammond sagte, er werde eher zurücktreten, als unter Johnson zu dienen. Mit dem Rücktritt des EU-freundlichen Wirtschaftsministers Greg Clark wurde ebenso gerechnet.

Die Politiker würden so vermutlich einer Entlassung durch Johnson zuvorkommen. Immerhin muss er nach der Wahl sein Kabinett zusammenstellen, dem eine wesentliche Rolle zukommen wird. „Johnson ist kein Mann von Details oder ein Mann, der seinen Worten Taten folgen lässt, oder ein Mann mit einer starken, umfassenden Zukunftsvision. Seine Minister werden die Richtung entscheiden, die unser Land einschlägt“, so „Guardian“-Journalistin Martha Gill.

Schwindender Rückhalt in der Bevölkerung

Zum Verhängnis könnte Johnsons Kabinett vor allem die schwindende Popularität in der Bevölkerung werden. Zuletzt hatten die Torys nämlich mit lediglich neun Prozent und damit dem fünften Platz bei der EU-Wahl im Mai das schlechteste Ergebnis bei einer Wahl seit 1832 eingefahren. Als großer Sieger ging daraus die neu gegründete Brexit-Party des EU-Gegners Nigel Farage hervor. Davor mussten die Torys auch den Verlust von etwa 20 Prozent ihrer bisherigen Sitze bei den Kommunalwahlen in großen Teilen Englands und Nordirlands verkraften.

Grafik zeigt britische Premiers seit 1951
Grafik: APA/ORF.at; Fotos: AFP; Quelle: APA

Schlagend werden würde der fehlende Rückhalt jedenfalls, sollte es in den kommenden Monaten – wie von Kritikern gewünscht und ob der verfahrenen Situation im Parlament nicht unwahrscheinlich – erst zu einem erfolgreichen Misstrauensvotum und in weiterer Folge zu einer Neuwahl kommen. „Die Bevölkerung unseres Landes sollte in einer Parlamentswahl entscheiden, wer Premierminister wird“, forderte am Dienstag etwa der Chef der oppositionellen Labour-Partei Jeremy Corbyn. Die Frage ist auch, ob sie vor oder nach dem EU-Austritt stattfinden würde.

Brexit-Aufschub nicht ausgeschlossen

Aus Teilen der EU gab es unterdessen Signale, dass der Brexit-Termin am 31. Oktober für eine Wahl noch einmal verschoben werden könnte. Dafür offen wäre etwa die künftige Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Das EU-Parlament wird sich am Mittwoch mit den Forderungen des künftigen britischen Premierministers zum Brexit befassen. Ein Aufschnüren des mit May ausgehandelten Brexit-Abkommens lehnte die EU wiederholt ab – allen voran Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier.

„NYT“: Johnson fehlt „Respekt“

Dass Johnson bei etwaigen Gesprächen mit der EU, aber auch in London erfolgreich ist, wird von Beobachtern stark angezweifelt. „Johnson fehlt der Respekt in Brüssel und in London, der es ihm ermöglichen würde, einen unpopulären Vorstoß (‚No Deal‘-Brexit, Anm.) durchzuboxen“, schrieb die „New York Times“ („NYT“). Johnsons Vergangenheit „als Journalist, Abgeordneter, Londoner Bürgermeister und Außenminister, weist mehr Gepolter als Erfolge sowie eine konsequente Missachtung von harter Arbeit, Integrität und der Wahrheit auf“, so die „NYT“ außerdem.

Johnsons Unberechenbarkeit sei jedoch sein Vorteil, so das „Wall Street Journal“ („WSJ“). Diese würde seine „No Deal“-Brexit-Drohung – anders als bei May, die einen Austritt ohne Abkommen nie wirklich in Erwägung gezogen hätte – ernst zu nehmender machen und könnte dadurch letztendlich zu weiteren Zugeständnissen führen.

In einer Kolumne der britischen Zeitung „Telegraph“, für den auch Johnson schreibt, hieß es, dass der neue Premier seinen Optimismus nicht verlieren würde. „Die große politische Frage lautet nun aber, ob dieser Optimismus zum Brexit führt oder aber zu dem hässlichsten, schnellsten politischen Niedergang, den das Land je gesehen hat“, hieß es weiter. Der Tory-Politiker Daniel Finkelstein riet Johnson in einer „Times“-Kolumne gar dazu, eine Neuwahl selbst auszurufen. So oder so sei ein politisches Desaster ihm zufolge in den kommenden Wochen nicht abwendbar.