Ocean Vuong
APA/AP/Luca Bruno
Ocean Vuong

Liebe, Demütigung und Poesie

Der vietnamesisch-amerikanische Lyriker Ocean Vuong hat mit „Auf Erden sind wir kurz grandios“ einen fulminanten Debütroman vorgelegt. In Form eines Briefes an seine Mutter verfasst, erzählt dieser in einer komplett eigenständigen Sprache von Außenseitertum, Schmerz, transgenerationalem Trauma und Begehren.

„Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen“, heißt es auf der ersten Seite. Die Mutter des 30-Jährigen fungiert nicht nur als Adressatin dieses wuchtigen Sprachkunstwerks, es ist ihr auch gewidmet. Das „Du“ der vietnamesischen Mutter, die mit ihrem Sohn 1990 von Ho-Chi-Minh-Stadt nach Hartford, Connecticut zog, strukturiert den Roman und legt den in ihm erzählten Erinnerungen und Bekenntnissen etwas Eigentümliches zugrunde. Denn die Mutter, so viel wird bald klar, wird diesen „Brief“ niemals lesen.

Sie ist Analphabetin, ein mehrfaches Opfer des Vietnamkriegs, ihre Schule brannte kurz nach Beginn ihrer Bildungslaufbahn ab und beendete diese damit für immer. Als Tochter einer Vietnamesin und eines amerikanischen Soldaten ist sie ihr ganzes Leben mit Rassismus konfrontiert: zu „weiß“ in Vietnam, zu „gelb“ in den USA. Diese Mutter bringt den Sohn – der Vater verschwindet nach gewalttätigen Episoden rasch aus beider Leben – mit Hilfe der Großmutter durch und ernährt die drei durch harte Arbeit in einem Nagelstudio. Es ist eine Kindheit, in der sich Demütigung und Liebe vermischen, ununterscheidbar werden.

Vorbereitung auf den Krieg

Seine Herkunft ist für den Erzähler seiner Kindheit und Jugend ein unauslöschlicher Marker. Einerseits ist er ständig rassistischen Übergriffen ausgesetzt, bei denen offenbar wird, dass er als Vietnamese in der Hierarchie der Einwanderer noch weit unter den Mexikanern und Puerto Ricanern in seiner Umgebung steht.

Buchhinweis

Buchcover
Hanser Verlag

Ocean Vuong: „Auf Erden sind wir kurz grandios“. Aus dem Englischen von Kristin Mittag. Hanser Literaturverlag, 240 Seiten, 22,70 Euro.

Zweitens werden die Traumata in der vom Krieg gebeutelten Familie über mehrere Generationen weitergegeben. Lan, die Großmutter, wurde als vietnamesisches Bauernmädchen als Jugendliche zwangsverheiratet und, als sie aus der Beziehung flüchtete, von ihrer Familie verstoßen. Sie überlebte, indem sie sich für amerikanische Soldaten prostituierte. Paul, einer der Soldaten, verliebt sich in sie und will sie heiraten. Rose, die Tochter der beiden, ist die Mutter des Erzählers.

Rose traktiert ihn als Kind bei jeder Gelegenheit mit Schlägen. „Ich habe gelesen, dass Eltern, die an posttraumatischer Belastungsstörung leiden, eher dazu neigen, ihre Kinder zu schlagen“, heißt es an einer Stelle. „Vielleicht bedeutet Hand an ein Kind zu legen, es auf den Krieg vorzubereiten. Ihm beizubringen, dass einen Herzschlag zu besitzen nie so einfach ist wie die Aufgabe des Herzens, ja, ja, ja zum Körper zu sagen.“

Keine Schwarz-Weiß-Einteilung

Leserinnen und Leser werden hier keine schwarz-weiße Einteilung finden, es geht Vuong weder darum, die Mutter, das „Du“ des Briefes, anzuklagen oder freizusprechen. Vielmehr gelingt ihm ein feingliedriges psychologisches Bild einer von struktureller Gewalt determinierten Mutter-Sohn-Beziehung, das die Frage, wie die Machtverhältnisse darin genau verlaufen, diffus werden lässt.

Das liegt wesentlich daran, dass die Mutter nur rudimentär Englisch spricht und auf ihren Sohn angewiesen ist, der schon mit wenigen Jahren zum „Familiendolmetscher“ wird. Aber gemäß der alten italienischen Weisheit „Traduttore-Traditore“ („Der Übersetzer ist ein Verräter“) agiert der Sohn auch als Beschützer seiner Mutter, indem er ihr rassistische Anfeindungen vorenthält oder sie gekonnt verklärt.

Vuong gelingt hier ein atemberaubendes Porträt einer Beziehung, die von beiden Seiten mit Formen der Gewalt geführt wird – aber aus einer tief empfundenen Liebe heraus. Die Machtverhältnisse schlagen im Roman natürlich zugunsten des Erzählers aus, das liegt schon in der ausgeklügelten Struktur des Textes begründet. Drei große Kapitel, die grob die Kindheit, Adoleszenz und die frühe Studienzeit des angehenden Dichters behandeln, sind in weitere Abschnitte von wenigen Zeilen bis zu wenigen Seiten Länge unterteilt.

Zwischen Prosa und Lyrik

In der erinnernden Rückschau wird der Roman zum Triptychon, in dem die einzelnen Abschnitte die Chronologie gekonnt durchbrechen. Jeder dieser Abschnitte schafft einen sprachlich beeindruckenden Textraum, der die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik unterläuft. Vuong wurde als Lyriker bekannt, der für seinen ersten 2016 erschienen Gedichtband „Night Sky With Exit Wounds“ unter anderem den renommierten T.S. Eliot Prize erhielt.

Seine Wahrnehmung und Fähigkeit zum nuancierten Beschreiben von Empfindungen machen diesen Roman auf jeder Seite zu einem eigenständigen Text, der nie schal, nie vorhersehbar daherkommt. Etwa sein kalkuliertes Spiel mit Farben, das immer auf die rassistische Grundierung der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft hinweist.

So lässt die Mutter den kleinen Buben Unmengen „amerikanische Milch“ trinken, damit er stark und wehrhaft wird: „Ich trank so viel von der kalten Milch, dass ich sie auf meiner betäubten Zunge nicht mehr schmecken konnte. Jeden Morgen danach haben wir das Ritual wiederholt: der dicke, weiße Zopf der Milch beim Eingießen, ich, der sie hinunterstürzte, und du meine Zuschauerin in der gemeinsamen Hoffnung, das Weiß, das in mir verschwand, möge mehr aus mir machen als einen gelben Jungen.“ Hervorzuheben ist auch die Leistung der ebenfalls 30-Jährigen Übersetzerin Anne-Kristin Mittag, die „Auf Erden sind wir kurz grandios“ in ein stimmiges und elegantes Deutsch übertragen hat.

Blick auf die düstere Gegenwart

Ab dem zweiten Kapitel bringt Vuong die düsteren Seiten der US-Gegenwartsgesellschaft ans Licht. Mit 14 beginnt der Erzähler, im Sommerjob schwarz auf einer Tabakfarm als Erntehelfer zu arbeiten. Auch hier offenbart sich der strukturelle Rassismus, wenn der Farmer seine Latinohilfsarbeiter spöttisch seine „Vereinten Nationen“ nennt. Mit der Adoleszenz kommt die erste Liebe, das erste Begehren, das sich im Fall des Erzählers auf Trevor konzentriert, den Inbegriff eines amerikanisch-maskulinistischen Rednecks im Format eines Halbstarken.

Wie Vuong hier die Schnittmenge zwischen schwuler Erotik, unterschwelliger Gewalt und zarter Jugendliebe zusammenbringt, hat weltliterarisches Format: „Weil Unterwerfung, wie mir bald klar wurde, auch eine Form von Macht war. Um ins Innere der Lust vorzudringen, brauchte Trevor mich. Ich hatte eine Wahl, eine Fertigkeit; ob er sich überlegen oder unterlegen fühlt, hängt von meiner Bereitschaft an, nachzugeben, weil man nur dann überlegen ist, wenn es etwas gibt, über das man sich erheben kann.“

Trevor ist drogensüchtig. Nicht aus literarischem Kalkül, um eine starke schillernde Figur zu schaffen, sondern aus staatlichem Versagen. Er ist ein Opfer der amerikanischen Opioidkrise, die durch das schrankenlose Vermarkten von Schmerzmitteln wie Oxycontin und Fentanyl jährlich Zehntausende Todesopfer fordert.

Jenseits der Fiktion

Mit Büchern wie Annie Ernaux’ „Der Platz“ und Edouard Louis’ „Wer hat meinen Vater umgebracht“ teilt sich „Auf Erden sind wir kurz grandios“ die autofiktionale Herangehensweise. Natürlich sind diese Romane literarisch durchgearbeitet, auf der technischen Höhe des literarischen Erzählens. Aber alle drei Schreibenden unternehmen den Versuch, ihre individuelle Subjektivität mit den Mitteln des Romans in einem gesellschaftlichen Gefüge darzustellen, die eigene Biografie und gesellschaftliche Position mit Hilfe der Kategorien Race–Class–Gender erzählend zu erforschen.

Vuongs Debütroman in die Nähe dieser beiden hochkarätigen französischen Gegenwartsautoren zu rücken ist nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch geboten. Vielen Büchern wünscht man zahlreiche Leserinnen und Leser. Nur bei den seltensten Fällen verhält es sich wie hier umgekehrt: Dem Publikum sind noch viele Romane wie „Auf Erden sind wir alle grandios“ zu wünschen.