ÖVP-Chef Sebastian Kurz
APA/Herbert Neubauer
Offensiv gegen Gerüchte

Rätseln über ÖVP-Wahlkampfstrategie

Die Parteikommunikation und damit die Wahlkampfstrategie der ÖVP haben in den vergangenen Tagen viele politische Beobachter rätseln lassen. Am Samstag wurde von der ÖVP über eine Website berichtet, die rechtsextreme und jenseitige Spinnereien – auch über ÖVP-Chef Sebastian Kurz – in die Welt setzt. Ohne diesen Hinweis, so der Tenor, hätte kaum jemand von der Existenz der Website erfahren.

Damit stelle sich die Frage, wieso die ÖVP diese Informationen überhaupt veröffentlicht hat, fragen sich etwa „Kleine Zeitung“, „Kronen Zeitung“ und „Standard“. Die ÖVP inszeniere ihren Spitzenkandidaten Kurz im laufenden Nationalratswahlkampf als einen „zu Unrecht Angegriffenen“ von allen Seiten, meint Politikwissenschaftler Peter Filzmaier.

Neu sei diese „Erzählung“ nicht: Im Juni habe die Partei anlässlich des Misstrauensantrags gegen die gesamte Regierung kommuniziert, SPÖ und FPÖ hätten sich gemeinsam gegen Kurz verschworen. „Jetzt ist es eben um die Behauptung von Schmutzkübeln im Internet erweitert worden“, so Filzmaier gegenüber ORF.at.

ÖVP spricht von „sensibler Reaktion“

Dass die Partei am Samstag auf die Website mit Verleumdungen aller Art hingewiesen habe, sei damit zu erklären, dass man „die Erzählung laufend fortführen muss“, so Filzmaier. Es habe sich eine „willkommene Gelegenheit geboten“, und ebenso willkommen sei „als Nebeneffekt die Ablenkung von der Diskussion um die Datenvernichtung im Kanzleramt“.

Die Erklärung der ÖVP sieht freilich anders aus: Dass man einem Verschwörungstheoretiker, der wilde Falschmeldungen nicht nur über Kurz, sondern auch über andere Politiker verbreitet, überhaupt eine Bühne bietet, begründet ein Sprecher damit, dass Funktionäre auf die Seite aufmerksam gemacht hätten. In Anbetracht der Entwicklungen der letzten Woche, wo dauernd Gerüchte gestreut worden seien, habe man darauf sensibel reagiert, denn: „Einmal im Netz, immer im Netz.“

Gerüchte und Anschuldigungen häufen sich

Tatsächlich scheinen spätestens seit der Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“ die Grenzen zwischen Kritik, Gerüchten, Verschwörungstheorie und völlig jenseitigen Spinnereien – vor allem im Netz – zu verschwimmen. Und die ÖVP sah sich in den vergangenen Wochen als Ziel solcher Gerüchte. So sorgte die Website und selbst betitelte Recherchenetzwerk Zoom für Aufregung, das die Beziehung von Kurz zum Gastronomen Martin Ho thematisierte und Drogengerüchte streute.

Dann verbreitete der Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer eine angebliche E-Mail, die illegale Parteispenden an die Tiroler EU-Kandidatin der ÖVP, Barbara Thaler, zeigen sollte, deren Echtheit aber sehr fragwürdig ist. Anders als ursprünglich angegeben wollte Dornauer nun die Mail nicht an die Korruptionsstaatsanwaltschaft übermitteln – mehr dazu in tirol.ORF.at.

Unterschiedliche Ebenen vermischt

„Alle gegen Kurz“ sei jedenfalls nicht frei erfunden, so Filzmaier. Und dafür brauche es eine Strategie als Antwort. Da die SPÖ wohl kaum noch einmal Tal Silberstein als Berater engagieren werde, müsse die ÖVP diese Erzählung selbst weitertreiben.

Es könne dazu kommen, und das sei ein „angenehmer Zusatzvorteil“, dass sachliche Vorwürfe gegen die Politik der ehemaligen Bundesregierung, offene Fragen wie die Datenvernichtung im Kanzleramt, „frühere tatsächliche Widerlichkeiten“ wie die Silberstein-Seiten gegen Kurz und „aktuelle widerliche Internetangriffe eines Spinners“ in einen Topf geworfen würden, sagte Filzmaier.

Das lasse Sach- und Vertrauenskritik verschwommen erscheinen, und man erspare sich vielleicht die Detaildebatte der Sachpolitik. Dadurch werde etwa suggeriert, dass auch der Misstrauensantrag gegen Kurz’ Kabinett ungerechtfertigt gewesen sei.

ÖVP sucht Initiative

Und die ÖVP scheint bedacht, immer den ersten Schritt zu setzen: Das sei schließlich „das Einmaleins für alle Parteien in der politischen Kommunikation“, so Filzmaier gegenüber ORF.at: „Wer in einem Aktion-Reaktion-Schema öfter die Initiative hat, derjenige punktet im Regelfall auch öfter.“

In der Regierungsrolle habe die ÖVP „dieses Aktion-Reaktion-Schema durch die Vorgabe von Themen nach einem strikten Zeitplan von Ankündigungen, Teilhandlungen und Regierungsvorlagen bestimmt“. Diese Option sei jetzt weggefallen: „Also ist man aktiv, indem man Angriffe gegen Kurz proaktiv thematisiert“, so der Politikwissenschaftler.

Für Verwunderung hatte bereits Mitte Juni die kurzfristig einberufene Pressekonferenz von ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer und ÖVP-Chef Kurz gesorgt, bei der vor angeblich kursierenden und gefälschten Mails gewarnt wurde. Auch hier wurde gerätselt, wieso die ÖVP die Aufmerksamkeit auf etwas lenkt, von dem man zuvor nichts wusste.

Auf eigene Zielgruppe abgestimmt

Die Strategie der ÖVP habe jedenfalls diejenigen als Zielgruppe, „die wahrscheinlich oder vielleicht ÖVP wählen bzw. das zuletzt getan haben“, so Filzmaier gegenüber ORF.at. Bezeichnenderweise verwende man daher als Kommunikationskanal auch Facebook & Co. Tatsächlich hatte sich Kurz selbst einen Tag nach der Parteiaussendung am Sonntag in einem persönlich gehaltenen Statement auf Facebook zu Wort gemeldet. Das Posting sorgte für Tausende Likes und Kommentare. Am Montag wurde die Botschaft dann auch noch per E-Mail verbreitet.

Auf die Frage, worin das Risiko einer solchen Strategie besteht, meint Filzmaier, dass das tägliche Wehklagen über Angriffe von außen mit dem Image des „starken Politikers“ kollidieren könne. Zudem seien alle Parteien nicht sehr glaubwürdig, wenn sie behaupten, dass nur die jeweils anderen Negativkampagnen machen würden.

„Klassische rhetorische Figur“

Der Sozialpsychologe Klaus Ottermeyer zog im Ö1-Mittagsjournal zudem Parallelen zum früheren Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider: „Das ist eine klassische rhetorische Figur von Rechtspopulisten, dass sie, wenn Schwierigkeiten auftauchen, diese Umkehr machen: dass sie nicht Täter sind, sondern Opfer.“

Kurz habe sicherlich auch von Haider gelernt, sagte Ottomeyer. „Wenn die Marke Ich doch nicht so perfekt ist, wie man sie vorher hingestellt hat, dann versucht man sich als Opfer darzustellen.“ Zudem würden mit der Vermischung von Ebenen politische Kritiker in „eine miese Gesellschaft gestellt“, das erschwere die Kritik – Audio dazu in oe1.ORF.at.