Blumen und Kerzen am Bahnsteig 7 im Frankfurter Hauptbahnhof
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Bub vor Zug gestoßen

Mutmaßlicher Täter in Schweiz gesucht

Der mutmaßliche Angreifer vom Frankfurter Hauptbahnhof, der einen achtjährigen Buben durch einen Stoß auf Gleise getötet haben soll, ist bereits in der Schweiz zur Festnahme ausgeschrieben gewesen. Zudem war er heuer in psychiatrischer Behandlung. Nun ist er in U-Haft. Deutschlands Innenminister Horst Seehofer (CSU) forderte am Dienstag mehr Polizei und sprach auch abseits des Frankfurter Falls von „Werteerosion“.

Der 40-jährige Eritreer soll auch die Mutter des getöteten Buben auf das Gleisbett gestoßen und es bei einer weiteren Person versucht haben. Die Mutter rollte sich weiter, anschließend soll der Mann ihr Kind vor den einfahrenden ICE gestoßen haben. Schließlich versuchte er den Angaben zufolge noch, eine 78-jährige Frau ins Gleisbett zu stoßen. Sie fiel aber auf dem Bahnsteig hin und erlitt eine Schulterverletzung.

Seehofer hatte nach dem Vorfall „angesichts mehrerer schwerwiegender Taten in jüngerer Zeit“ seinen Urlaub abgebrochen, um sich mit den Sicherheitsbehörden zu beraten. Am Dienstag informierte er in Berlin über den aktuellen Kenntnisstand und seine Folgerungen.

„Ein solches Ereignis macht uns alle fassungslos und trifft uns mitten ins Herz“, so Seehofer. Er drückte seine Anteilnahme aus und dankte allen Helfern, auch jenen Passantinnen und Passanten, die den Mann an der Flucht hinderten. „Ich darf versichern, dass wir alles tun werden, damit der mutmaßliche Täter einer gerechten Bestrafung zugeführt wird.“

Asyl seit 2008

Der Präsident der deutschen Bundespolizei, Dieter Romann, gab anschließend Details zu dem Verdächtigen wieder: Der 1979 in Eritrea geborene Mann, der verheiratet ist und selbst drei Kinder hat, sei 2006 unerlaubt in die Schweiz eingereist und habe 2008 Asyl gewährt bekommen. Mittlerweile habe er eine Niederlassungsbewilligung, sei einer festen Arbeit nachgegangen und gut integriert gewesen, „aus Sicht der Behörden vorbildlich“.

Horst Seehofer
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Der deutsche Innenminister Seehofer will nach dem Vorfall in Frankfurt „nicht zur Tagesordnung übergehen“

Eine Niederlassungsbewilligung wird Ausländern in der Schweiz nach einem Aufenthalt von fünf oder zehn Jahren im Land ausgestellt. Niedergelassene haben damit laut dem Staatssekretariat für Migration ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht.

Nachbarin bedroht und eingesperrt

Laut den Angaben gab es sogar eine Broschüre seiner Arbeitsstelle, die ihn als Vorbild für gelungene Integration darstellte. Erst kürzlich aber, am 25. Juli, sei er auffällig geworden. Er soll in der Schweiz eine Nachbarin mit einem Messer bedroht, sie gewürgt und eingesperrt haben und danach geflüchtet sein, so Romann. Laut Schweizer Behörden schloss der Mann auch seine Frau und seine drei kleinen Kinder ein und floh.

Laut Seehofer reiste der Tatverdächtige „offensichtlich legal“ nach Deutschland ein. Sein Ministerium teilte mit, dass der Mann in Deutschland keinen Asylantrag gestellt habe. Romann zufolge liegt die Vermutung nahe, dass er auf der Flucht war. Es sei davon auszugehen, dass er an der Grenze nicht kontrolliert wurde. „An der Grenze zur Schweiz gibt es auch keine reguläre Grenzkontrolle.“

Seehofer spricht von „Mord“

Seehofer sagte, in jüngster Zeit habe es angesichts mehrerer schlimmer Verbrechen eine „Werteerosion“ gegeben. Eine Verknüpfung des Asylthemas und des Vorfalls in Frankfurt wolle er nicht. Der Mann habe in der Schweiz einen gültigen Status gehabt. Es solle nicht der Eindruck entstehen, man wolle nun damit Ausländerpolitik machen. Es gebe aber generell „eine Entwicklung in den letzten Wochen“, so Seehofer. Die Kriminalität sei zwar insgesamt rückläufig, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung leide aber.

Nach einem „solch grässlichen Verbrechen“ könne man nicht zur Tagesordnung übergehen. Es liege in der Verantwortung der Politik, Konsequenzen abzuleiten. Auch wenn es keine absolute Sicherheit gegen könne, müsse man „alles Menschenmögliche“ tun, um Sicherheit zu gewährleisten, so Seehofer, der auch mehrmals von „Mord“ sprach.

Verdächtiger schweigt

Sein Innenministerium und das Verkehrsministerium würden nun Spitzengespräche anberaumen, um die Sicherheit auf Bahnhöfen zu verbessern. Angesichts von 5.600 Bahnhöfen in Deutschland mit unterschiedlichster Struktur sei das „eine komplexe Aufgabe“. Es gebe aber personelle und technische Möglichkeiten. Seehofer forderte mehr Polizeipräsenz, auch der Bundespolizei.

„Das ist für mich wichtiger als so mancher zusätzlicher Paragraf“, so Seehofer. Zudem sprach er sich für mehr Videoüberwachung aus. Auch „technische Verbesserungen“ dürfe man nicht von vornherein ausschließen, sondern müsse sie sachlich diskutieren. Am Geld sollten solche Maßnahmen nicht scheitern. Es sei „kein Argument“ zu sagen: „Das kostet Millionen und deshalb machen wir das nicht.“

Heuer in psychiatrischer Behandlung

Im Fall des Eritreers ermitteln die Behörden nun wegen des Verdachts des Mordes und des versuchten Mordes. Er wurde am Dienstag in Untersuchungshaft genommen, so die zuständige Staatsanwaltschaft. Erkenntnisse zum Tatmotiv gibt es bisher nicht: Der Mann machte noch keine Angaben zum Tatgeschehen.

Nach Angaben der Schweizer Behörden befand er sich in diesem Jahr in psychiatrischer Behandlung. Es seien aber „keine Hinweise auf eine Radikalisierung oder ein ideologisches Motiv“ vorgelegen, teilten die Behörden in Zürich mit. Es liefen weitere Ermittlungen zu seinem Gesundheitszustand. Es habe aber keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich der Mann ins Ausland absetzen könnte. Daher hätten die Ermittler auf eine Fahndungsausschreibung im Schengen-Raum verzichtet. In Deutschland sind nun psychiatrische Gutachten geplant. Es gab keine Hinweise auf Drogen oder Alkohol.

Bub vor Zug gestoßen: Motiv unklar

In Frankfurt wurden eine Frau und ihr achtjähriger Sohn vor einen Zug gestoßen. Der Fall hat in Deutschland eine heftige Debatte ausgelöst.

Auch einen Zusammenhang zu einer Tat in Wächtersbach gibt es offenbar nicht. In der hessischen Kleinstadt hatte ein 55 Jahre alter Deutscher vergangene Woche auf einen Eritreer geschossen und ihn schwer verletzt. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, sagte die Sprecherin. So würden noch Zeugen vernommen und Videomaterial ausgewertet.

Warnung vor Nachahmungstätern

Am Tatort herrschte am Dienstag weiter Entsetzen. Zahlreiche Menschen legten auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofs Blumen, Kerzen und Stofftiere nieder. Rund 400 Menschen erinnerten zudem mit einer Andacht an den getöteten achtjährigen Buben. Der Tod des Kindes sei für die Angehörigen eine „sinnlose Katastrophe“, sagte der Leiter der Frankfurter Bahnhofsmission, Carsten Baumann, am Dienstagabend. Baumann lud die Trauernden ein, sich in ein Kondolenzbuch einzutragen. Zunächst war geplant, die Andacht in der Bahnhofshalle abzuhalten, wegen des erwarteten großen Andrangs wurde sie aber auf den Vorplatz verlegt.

Menschen bei Gedenkveranstaltung
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Eine Gedenkveranstaltung wurde wegen großen Andrangs von der Bahnhofshalle auf den Vorplatz des Bahnhofs verlegt

Neben dem Gottesdienst gab es auf dem Bahnhofsvorplatz auch zwei Mahnwachen unterschiedlicher politischer Gruppierungen. „Es gab einige hitzige Diskussionen, aber niemand ist den anderen angegangen“, sagte ein Sprecher der Frankfurter Polizei. Die Andacht selbst sei ruhig verlaufen, hieß es.

Die Attacke hatte eine politische Debatte ausgelöst. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, warnte unterdessen vor Nachahmungstätern. Aus Großstädten wie Berlin seien Fälle von „S- und U-Bahn-Schubsern“ schon länger bekannt. „Die Polizei versucht sich nach jedem Fall präventiv besser einzustellen. Bei Taten, die vorsätzlich geschehen, stößt sie jedoch an ihre Grenzen“, sagte Radek dem RND.

Ähnlicher Fall eine Woche zuvor

Der Fall erinnert an eine Attacke, die sich vor gut einer Woche in Voerde im Bundesland Nordrhein-Westfalen ereignet hatte: Dort hatte ein Mann eine Frau auf einem Bahnhof vor einen Regionalzug gestoßen und so getötet. Der 28-jährige Tatverdächtige – ein in Deutschland geborener Serbe – sitzt wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft.

Wie im Frankfurter Fall kannten der mutmaßliche Täter und das Opfer den Ermittlern zufolge einander nicht. Nach den Untersuchungen einer Blutprobe gibt es bei dem Mann Hinweise auf Kokainkonsum. Es seien bei ihm Abbauprodukte von Kokain im Blut nachgewiesen worden. „Das heißt aber nicht, dass er konkret unter Kokaineinfluss stand“, sagte der Duisburger Staatsanwalt am Montag.