Gittertür am Gang in der Justizanstalt Josefstadt in Wien
ORF.at/Patrick Wally
Justiz in Nöten

Dringende Appelle an künftige Regierung

Angesichts der Medienberichte der vergangenen Tage über Missstände in Österreichs Justizsystem hat es nun von allen Seiten dringende Appelle an die künftige Regierung gegeben. Der Tenor: Es braucht Reformen und Innovationen, vor allem aber ein ausreichendes Budget – denn die Lage ist ernst.

SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim wünscht sich von der nächsten Regierung, die Personalberechnungsmodelle zur Hand zu nehmen und die sich daraus ergebenden Bedürfnisse zu berücksichtigen. „Der Personalmindeststand gehört erfüllt“, so Jarolim. „Wer bei der Justiz spart, gefährdet den Rechtsstaat, und wer den Rechtsstaat gefährdet, sät Gewalt.“

Schuld an der derzeitigen Misere ist seiner Ansicht nach die „Ignoranz“ der früheren Regierungen, wobei er nicht nur ÖVP-FPÖ, sondern auch schon die Großen Koalitionen davor meint. Die Appelle der Justiz und der Standesvertretung seien bei den Regierungen nicht angekommen. Dass sich die Situation zu einer Katastrophe entwickelt, sei absehbar gewesen. Im Justizausschuss hätten sich alle Fraktionen einstimmig dazu bekannt sicherzustellen, dass die Justiz nicht vor die Hunde gehen dürfe.

Notlage bald auch für Bevölkerung „spürbar“

NEOS-Justizsprecherin Irmgard Griss richtete einen „dringenden Appell“ an die nächste Regierung, eine bessere budgetäre Ausstattung der Justiz zu ihrer ersten Priorität zu machen. In einer Aussendung betonte Griss, dass die Notlage des Justizsystems früher oder später auch für die Bevölkerung spürbar sein werde.

„Wenn Verhandlungen nicht geführt, Urteile von den Kanzleien nicht ausgefertigt werden können, weil kein Personal da ist, dann ist im Rechtsstaat Gefahr in Verzug. Wir müssen rasch dafür sorgen, dass die Justiz die notwendigen Mittel bekommt, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Wer Rechtsstaat sagt, muss ihn auch finanzieren“, so Griss.

Justizminister Clemens Jabloner
ORF.at/Roland Winkler
„Sanieren Sie die Justiz, solange Sie die Gelegenheit haben", heißt es in einem Appell an den Justizminister

JETZT gegen ÖVP-Justizminister

Für JETZT ist die ÖVP schuld an der Misere in der Justiz. „Sie stellte über zehn Jahre sowohl Finanz- als auch Justizminister und hat unseren Rechtsstaat verantwortungslos kaputtgespart“, meinte Justizsprecher Alfred Noll in einer Aussendung.

Maria Berger zum Justizsystem in Österreich

Die ehemalige SPÖ-Justizministerin Maria Berger über den aktuellen Zustand der Justiz in Österreich: Von Zuständen wie in Ungarn oder Polen sei man weit entfernt.

Für die Rettung der Justiz sieht Noll daher nur einen Weg: „Finanz- und Justizressort ohne ÖVP-Minister.“ In der Zwischenzeit appelliert er an Justizminister Clemens Jabloner: „Sanieren Sie die Justiz, solange Sie die Gelegenheit haben. Wenn in der nächsten Regierung wieder die ÖVP für diese Ressorts verantwortlich ist, wird es weiter rapide bergab gehen.“

FPÖ verlangt Kassasturz unter Übergangsregierung

Einen Kassasturz – wenn möglich schon unter der jetzigen Regierung – wünscht sich FPÖ-Justizsprecher Harald Stefan. Er gab zu, auch in der vergangenen Regierung mit freiheitlicher Beteiligung die Fachkräfte in der Justiz zu wenig beachtet zu haben, da das richterliche Personal einfach auch die bessere Lobby habe.

Daher bilde dieser Bereich im letzten Budget auch eine gewisse „Schwachstelle“. Für Stefan wäre die von ihm gewünschte Bestandsaufnahme beim Justizpersonal keine politische Angelegenheit, daher könne sich auch schon die Übergangsregierung dieses Themas annehmen.

Ein ausreichendes Justizbudget sei „essenziell“, hieß es dazu von ÖVP-Verfassungssprecher Wolfgang Gerstl. Gleichzeitig sei es aber „nötig, Reformen und Innovationen voranzubringen“. Diesbezüglich führte Gerstl etwa die Digitalisierungsmaßnahmen von Ex-ÖVP-Justizminister Josef Moser ins Treffen. Gerstl zufolge müsse hier „auch weiter unser Fokus liegen“.

Notfallpläne an Gerichten in Kraft

Die Personaleinsparungen haben sich bereits an den Gerichten bemerkbar gemacht. Die Bezirksgerichte arbeiteten Notfallpläne aus, jenes in Bruck an der Leitha in Niederösterreich hat einen solchen schon aktiviert. An manchen Gerichten wurden telefonfreie Nachmittage eingerichtet.

Für den Notfall wird den Bezirksgerichtsvorstehern empfohlen, Prioritäten zu setzen. Hintangestellt werden könnten dann etwa Verlassenschafts- und Verkehrsunfallsachen, Besitzstörungsklagen und Exekutionsanträge. Auch das Wiener Straflandesgericht beklagte zuletzt einen Mangel vor allem an nicht richterlichem Personal – mehr dazu in wien.ORF.at.

Landesgericht Wien
ORF.at/Zita Klimek
Gibt es zu wenig Personal, bleiben Akten an den Gerichten liegen

Der Notfallplan sei jedoch keineswegs als Protestmaßnahme zu verstehen, sondern soll lediglich ein Versuch sein, den Betrieb trotz Personalmangels aufrechtzuerhalten, sagte die Präsidentin der Richtervereinigung, Sabine Matejka, im Ö1-Morgenjournal am Donnerstag – Audio dazu in oe1.ORF.at. Auch für die von der ÖVP vorgeschlagenen Digitalisierungsmaßnahmen würden seit Jahren immer wieder Mittel fehlen, der Digitalisierunsgprozess gehe „relativ langsam“ voran.

„Verkraften Sparmaßnahmen nicht mehr“

Unbesetzte Stellen bei Kanzleipersonal würden zudem zu einer Beeinträchtigung der Rechtsprechung führen. „Wenn dieser Zustand lange so weitergeht, dann wird das Vertrauen (der Bürger in den Rechtsstaat, Anm.) sicher leiden“, so Matejka. Das Problem der Personaleinsparungen habe bereits vor mehreren Jahren begonnen, nun spitze sich die Situation allerdings „drastisch“ zu.

„Zu Beginn hat man einfache Arbeiten ausgelagert wie Reinigungsdienste. In den letzten Jahren ist man dann wirklich ins Innere der Justiz vorgedrungen, in Bereiche, wo wir diese Sparmaßnahmen nicht mehr verkraften“, sagte die Richterpräsidentin, die sich ein „Umdenken“ und „klares Bekenntnis“ zur Finanzierung der Justiz wünsche.

Justizanstalten: Zu viele Häftlinge, zu wenig Personal

In den großen österreichischen Justizanstalten gibt es immer mehr Häftlinge und immer weniger Personal. Der Gewerkschaft zufolge fehlen 500 Planstellen.

Aus der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage von NEOS geht hervor, dass Jabloner im kommenden Budget der nächsten Bundesregierung für den Strafvollzug mit einem finanziellen Mehrbedarf von rund 66 Millionen Euro rechnet. Mehr als 21 Millionen Euro fallen alleine auf die Finanzierung des Personals an. Denn nicht nur an den Gerichten, sondern auch in den Justizanstalten fehlt es an Personal, 70- bis 80-Stunden-Wochen seien die Regel, sagte Gewerkschafter Albin Simma. „Das sind keine menschlichen Arbeitsbedingungen mehr“, so Simma am Donnerstag in der ZIB um 13.00 Uhr.

Ausständige Reform des Maßnahmenvollzugs

Zusätzlich zu dem Personalproblem lassen auch geplante Reformen im Justizsystem auf sich warten, etwa jene zum Maßnahmenvollzug. Die Plattform Maßnahmenvollzug, ein Zusammenschluss von zwölf Umfeldorganisationen, wandte sich mit einem offenen Brief am Mittwoch direkt an den Justizminister.

Straf- und Maßnahmenvollzug

Neben dem Strafvollzug, der die Unterbringung von Rechtsbrechern in eine Anstalt regelt, wendet sich der Maßnahmenvollzug an Straftäter, die unter einer schwerwiegenden psychischen Störung leiden und deshalb nicht verurteilt werden können. Er umfasst „mit Freiheitsentziehung verbundene vorbeugende Maßnahmen“ zur Unterbringung auf unbestimmte Zeit.

Österreich wurde, so heißt es in dem Schreiben, bereits zweimal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen der Missstände bei der Inhaftierung von psychisch kranken Menschen verurteilt. Ein fertiger Entwurf zur Reform liege bereits seit 2015 vor, dieser müsste nur noch in die parlamentarische Begutachtung gelangen – die jederzeit beginnen könnte, da zudem auch ein Initiativantrag von SPÖ, NEOS und JETZT vorhanden sei.

„Die Reform des Maßnahmenvollzugs wurde seit Jahren immer wieder aufgeschoben und zuletzt durch zwei Neuwahlen nicht weitergebracht. Jetzt wäre die Gelegenheit für Justizminister Jabloner, den fertigen Gesetzesentwurf in die Begutachtung zu schicken, damit dann die neue Regierung mit der Umsetzung beginnen kann", so der Sprecher der Plattform, Markus Drechsler, gegenüber ORF.at.