Chicago Race Riots in 1919
AP/The Jun Fujita negatives collection/Chicago History Museum
Rassenhass

Der blutrote Sommer der USA

Vor 100 Jahren schwappte eine Welle an rassistischen Gewaltexzessen über die USA, die heute unter dem Namen „Red Summer“ bekannt ist. In Dutzenden Städten wurden im Nachkriegsjahr 1919 Hunderte Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen ermordet – wie viele genau, ist unklar. Bis heute ist der „Red Summer“ ein blinder Fleck in der US-Geschichte.

Der „Red Summer“ begann de facto schon im Frühjahr und reichte bis in den Herbst. In mehr als 30 Städten kam es zu separaten, rassistisch motivierten Gewalttaten, die vorrangig Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen das Leben kostete. In vielen Fällen zogen Lynchmobs durch die Straßen und erschossen, erstachen, erschlugen, steinigten, hängten und verbrannten ihre Opfer. Ganze von Schwarzen bewohnte Viertel wurden geplündert, Kirchen angezündet. Auch Weiße wurden getötet, was die Gewalt weiter anheizte.

Die genauen Opferzahlen der Gewaltwelle sind bis heute unbekannt, mehrere hundert Tote und noch wesentlich mehr Verletzte sind wahrscheinlich. Die meisten Opfer gab es in Elaine im Bundesstaat Arkansas, wo ab dem 1. September 1919 das womöglich schlimmste Massaker im Zuge der Rassenkonflikte in der US-Geschichte stattfand. Schätzungen schwanken zwischen 130 und 200 Opfern, die genaue Zahl wurde nie geklärt, und eine echte juristische Aufarbeitung blieb aus.

Versammlung endete in Blutbad

An dem Tag hatten sich rund 100 afroamerikanische Pächter von Feldern zu einem gewerkschaftlichen Treffen versammelt, bei dem sie gegen Ausbeutung und niedrige Zahlungen vorgehen wollten. Als Weiße das Treffen auflösen wollten, kam es zu einem Schusswechsel, bei dem ein Polizist getötet wurde. Im Anschluss formierte sich ein aus 500 bis 1.000 Personen bestehender weißer Mob, der in den folgenden drei Tagen wahllos Schwarze tötete. Erst Bundestrupps beendeten das Morden. Auch sechs Weiße starben – für ihren Tod wurden zwölf Afroamerikaner von weißen Geschworenen verurteilt.

Das Untypische am Elaine-Massaker im Kontext des „Red Summer“ ist, dass es sich am Land ereignete. Die meisten Ausbrüche fanden in Städten des Nordens statt: In Chicago starben 38 Menschen, in Washington 15. Das hing mit dem Ersten Weltkrieg und den großen Umwälzungen der Zeit statt. Eine davon war die „Great Migration“, die große Wanderbewegung der afroamerikanischen Bevölkerung innerhalb der USA. Allein bis 1920 zogen dabei geschätzte 500.000 Schwarze aus den Südstaaten in die industrialisierten Städte des Nordens, etwa nach New York, Chicago und Detroit.

Chicago Race Riots in 1919
AP/The Jun Fujita negatives collection/Chicago History Museum
Mobs mit Ziegelsteinen auf Menschenjagd in Chicago

Die afroamerikanische Bevölkerung erhoffte sich davon Aufbruch und Ermächtigung: Weg von Rassentrennung, Lynchmorden und Lebensumständen, die vielerorts immer noch an die Zeit der Sklaverei erinnerten, hin zu mehr gesellschaftlicher Freiheit und besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Denn die wachsende Industrie im Norden litt aufgrund des Krieges unter enormem Arbeitskräftemangel – zahlreiche Schwarze fanden Jobs etwa im Eisenbahnbau oder der Stahlindustrie. Zudem drängten sie in Branchen, die von europäischen Einwanderern dominiert waren, etwa die Fleischindustrie.

„Menschen sahen Invasion“

Doch auch im Norden schlug den Menschen Hass entgegen. Der soziale Frieden im Nachkriegsjahr 1919 war brüchig: Die Wirtschaft war extrem instabil, die Inflation explodierte, viele ehemalige Soldaten des Ersten Weltkriegs konnten zumindest vorläufig nicht in die Gesellschaft eingegliedert werden. Große Teile der weißen Bevölkerung fühlten sich durch die Zuwanderung bedroht, sahen ihre Jobs in Gefahr und fürchteten um den Wohnraum. „Zu diesem Zeitpunkt sahen die Menschen in den nördlichen Städten – vor allem in Chicago – die Zuwanderung als eine Invasion“, so John Russick vom Chicago History Museum gegenüber NPR.

Im Süden wiederum wuchsen laut dem Journalisten und Autor Cameron McWhirter („Red Summer: The Summer of 1919 and the Awakening of Black America“) die Spannungen zwischen weißen und schwarzen Landarbeitern, vor allem in der Baumwollbranche. In den Nachkriegsjahren herrschte große Nachfrage nach Textilien, weswegen auch afroamerikanische Pächter zu Wohlstand kommen konnten. Weiße Farmer fühlten sich von dieser Konkurrenz bedroht.

Baumwollpflücker, 1915
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„Sharecropper“, also Pächter, auf einem Baumwollfeld im Jahr 1915

Zudem wuchs unter schwarzen Pächtern der Wunsch nach einer faireren Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen. Schwarze organisierten sich zunehmend gewerkschaftlich. Das schürte die „Rote Angst“ – eine antikommunistische Hysterie, die sich nach der Russischen Revolution 1917 Bahn brach. Die gewerkschaftlichen Ambitionen führten zu dem Gedanken, dass eine kommunistische Revolution in den USA in der afroamerikanischen Bevölkerung ihren Ausgang nehmen könnte. Auch beim Massaker von Elaine spielte das eine Rolle.

Neue Gegenwehr

Was die Gewaltwelle des „Red Summer“ laut Einschätzungen der Forschung von früherer Rassengewalt unterscheidet, ist die Gegenwehr der afroamerikanischen Gemeinde. Einerseits formierten sich bewaffnete Widerstandsgruppen, andererseits weiteten Bürgerrechtsgruppen wie die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) ihren Kampf für die Gleichberechtigung vor Gerichten, in der Politik und der Öffentlichkeit aus. Damit wurde auch der Grundstein für spätere Bürgerrechtsbewegungen gelegt.

Chicago Race Riots in 1919
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Auch zwischen der Staatsgewalt und der schwarzen Bevölkerung eskalierte die Gewalt – zu sehen ist ein Bild aus Chicago

Wie McWhirter analysiert, hing das neue Selbstbewusstsein im Kampf um die eigenen Rechte ebenfalls mit dem Ersten Weltkrieg zusammen. Zahlreiche Afroamerikaner waren als Soldaten in Europa und anderen Teilen der Welt stationiert gewesen, hatten dabei Anerkennung und Gleichbehandlung erfahren. Sie kehrten mit dem Willen zurück, sich das auch im zivilen Leben zu sichern.

Doch die Ambition der Afroamerikaner schürte den Zorn vieler Weißer. Die ehemaligen Soldaten hätten „im Laufe des Krieges und in den Jahren danach realisiert, dass ihre Errungenschaften und Erfolg mehr Zorn und Gift verursachten, als wenn sie gescheitert wären“, so die Historikerin Adriane Lentz-Smith gegenüber dem „Smithsonian“-Magazin.

Polizei „Werkzeug weißer Vorherrschaft“

Vielerorts stieg der Druck, am Ende standen Gewalteruptionen. Diese entwickelten sich regelmäßig, weil sich die weiße Exekutive weigerte, die Rechte und Leben schwarzer Menschen zu schützen. In Chicago etwa war der Tod eines 17-jährigen Schwarzen namens Eugene Williams Auslöser für eine tagelange Revolte. Der Bursche war beim Baden in einen für Weiße reservierten Bereich geraten und danach mit Steinen beworfen worden. Er starb – die Polizei weigerte sich allerdings, den 24-jähriger Steinewerfer zu verhaften.

Daraufhin eskalierte die Situation: Ein Polizist wurde von einem Schwarzen erschossen, woraufhin sich Gruppen Weißer formierten und eine Spur der Gewalt durch Chicago zogen. Wie John Russick vom Chicago History Museum gegenüber NPR erklärt, sei die Polizei zu dieser Zeit ein „Werkzeug weißer Vorherrschaft“ gewesen. „Alle Werkzeuge der Macht befanden sich 1919 in der Hand von Weißen.“ Das zeigte sich nicht nur in Chicago.

Ein Absatz im Geschichtsbuch

Trotz des hohen Blutzolls sind die Ereignisse des „Red Summer“ auch in den USA heute kaum noch bekannt. Die Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er ließ noch Jahrzehnte auf sich warten, die Unterdrückung setzte sich fort. An einer echten Aufarbeitung unmittelbar nach den Ereignissen hatte das weiße Justizsystem kein Interesse. Stattdessen wurde ein Mantel des Schweigens ausgebreitet. Bis heute werden die Ereignisse in den Schulen im besten Fall angerissen.

Gedenkstein zu den Chicago Race Riots
AP/Noreen Nasir
Ein Gedenkstein nahe der Stelle, an der der 17-jährige Eugene Williams starb

Erst in den vergangenen Jahren hat auch die Forschung ihr Interesse am „Red Summer“ entdeckt. Unter anderem wird versucht, die Ereignisse des Massakers von Elaine neu aufzurollen. Im Zuge des 100-jährigen Jubiläums startete auch die Stadt Chicago eine Veranstaltungsreihe. Zu deren Eröffnung sagte die Bürgermeisterin Lori Lightfoot, die Ereignisse von 1919 wirkten nach wie vor: „Aus der Sicht von vor 100 Jahren können wir sehen, dass unsere Vergangenheit sowohl in unserer Fähigkeit, ihr brutales Erbe zu überwinden, als auch in unserer Fähigkeit, weiterhin mit ihrer Last zu kämpfen, gegenwärtig ist. Aus unserer Geschichte zu lernen ist auch nur möglich, wenn wir unsere Geschichte kennen.“