Männer am Bahnhof in Jammu
AP/Channi Anand
Kaschmir abgeschnitten

Bevölkerung in Geiselhaft der Politik

Seit Indiens Regierung am Montag beschlossen hat, den Sonderstatus für den indischen Teil Kaschmirs aufzuheben, befindet sich der Unruhestaat in einem „Lockdown“-Zustand. Internet-, Telefon- und Fernsehverbindungen wurden eingeschränkt, Schulen, Büros und Märkte geschlossen. Zudem überwachen Zehntausende Soldaten die verhängte Ausgangssperre der Region. Betroffene sprechen von einem „offenen Gefängnis“.

Inmitten der heftigen Debatte über die Rechtmäßigkeit und die Auswirkungen der Entscheidung der indischen Regierung, der mehrheitlich muslimisch bewohnten Region Autonomierechte zu streichen, scheine eine wesentliche Stimme zu fehlen, schrieb die BBC am Mittwoch. Nämlich jene der Einwohner und Einwohnerinnen Kaschmirs.

Der BBC-Korrespondent Aamir Peerzada befindet sich derzeit im Norden Kaschmirs und berichtete von Einheimischen, die sich von dem Vorgehen der Regierung überrascht zeigten: „Es gab keine öffentliche Diskussion über diesen Schritt. Niemand hat das erwartet. Wir waren schockiert, als wir davon erfahren haben“, sagte etwa Abdul Khali Najar. Niemand wisse, wie es nun weitergehe.

Der von Neu-Delhi aufgehobene Artikel 370 der Verfassung garantierte der indisch-kontrollierten Region Kaschmir unter anderem eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge und weitgehende Kompetenzen mit Ausnahme der Außen- und Verteidigungspolitik. Nichtkaschmirern war es bisher verboten, permanent in der Region zu leben. Indiens Innenminister Amit Shah kündigte an, der Staat Jammu und Kaschmir werde nun umorganisiert. Das Gebiet solle in zwei Bundesstaaten gespalten werden und der unmittelbaren Kontrolle Neu-Delhis unterstellt werden.

Telefonierende Männer in Jammu
AP/Channi Anand
Viele bereiten sich schon auf die Flucht aus Kaschmir vor – trotz Einschränkung gelingt es einigen noch zu telefonieren

„Größter Verrat des indischen Staates seit 70 Jahren“

Trotz der Internetsperre gelang es einigen Kaschmirern, auf Sozialen Netzwerken ihre Erfahrungen mitzuteilen. „Die Menschen stehen unter Schock. Sind betäubt und versuchen zu verstehen, was passiert ist. Alle trauern um das, was wir verloren haben … Es ist der Verlust der Staatlichkeit, der die Menschen zutiefst verletzt hat. Es wird als der größte Verrat des indischen Staates der vergangenen 70 Jahre angesehen“, schrieb etwa Shah Faesal, ein indischer Beamter, der seine eigene politische Partei gegründet hat, auf Facebook.

Auch ein kaschmirischer Reiseveranstalter sprach gegenüber der BBC von einem Gefühl der Wut in der Bevölkerung: „Die Einwohner Kaschmirs sind wütend. Sie sind wie ein Vulkan, der auszubrechen droht.“ Durch die starke Militärpräsenz und die strenge Ausgangssperre habe sich die Region in ein „offenes Gefängnis“ verwandelt, sagte Rashid Alvi, Besitzer eines Medizingeschäfts in Srinagar gegenüber der BBC. Bereits am Wochenende hatte Indiens Regierung Zehntausende zusätzliche Soldaten nach Kaschmir geschickt und eine Ausgangssperre in der Region um Srinagar verhängt.

Soldaten in Jammu
APA/AFP/Rakesh Bakshi
Indische Sicherheitskräfte bewachen in Kaschmir eine Straßensperre

Ein Todesopfer und Verletzte

Die Soldaten sollten für die Einhaltung der Sperre sorgen, die zum Ziel hat, vor allem Proteste und Versammlungen zu unterbinden. Der örtliche Polizeichef bezeichnete die Lage am Dienstag als „total friedlich“, wie eine indische Nachrichtenagentur berichtete. Nach Angaben von Bewohnern in Srinagar kam es allerdings am Mittwoch bereits zu einzelnen Protesten.

Kaschmir-Konflikt

Der Konflikt im Himalaya-Gebiet dauert bereits mehr als 70 Jahre. Seit Britisch-Indien im Jahr 1947 unabhängig und in Indien und Pakistan geteilt wurde, streiten die beiden Länder um die gesamte Herrschaft über Kaschmir, zwei Kriege wurden deswegen bereits geführt. Beide Atommächte beherrschen jeweils einen Teil von Kaschmir, ein weiterer Teil gehört zu China.

Auch Alvi sagte gegenüber der BBC, dass die Bevölkerung nicht lange still sein werde. Sobald die Ausgangssperre gelockert werde, „werden sie (die Bürger und Bürgerinnen, Anm.) auf die Straße gehen“. Einige Einwohner warfen am Mittwoch Steine auf Sicherheitskräfte, wie in einem Video der BBC zu sehen ist. Zudem riefen sie: „Indien, geh zurück! Kaschmir gehört uns!“ In Muzaffarabad, der größten Stadt im pakistanischen Teil Kaschmirs, gingen bereits am Dienstag rund 500 Menschen gegen Indiens Entscheidung auf die Straße.

Am Mittwoch wurde auch ein Todesfall bekannt. Ein Demonstrant, der gegen die Sperre verstoßen hatte, starb in Srinagar auf der Flucht vor der Polizei, wie ein Polizeibeamter sagte. Der Jugendliche war auf der Flucht in den Jhelam-Fluss gesprungen und gestorben, wie die Nachrichtenagentur AFP aus Polizeikreisen erfuhr. Mindestens sechs Menschen seien zudem mit Schusswunden und anderen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Vorfall ereignete sich in der Altstadt von Srinagar, die bereits in den vergangenen Jahrzehnten ein Zentrum antiindischer Proteste war.

Indien „Besetzungsmacht in Jammu und Kaschmir“

Ebenso wurden bereits zwei Politiker und eine Politikerin aus Kaschmir festgenommen. Sie könnten mit ihren Aktivitäten „den Frieden stören“, hieß es in einem Gerichtsbeschluss. Die indischen Behörden befürchteten, dass die Politiker Demonstrationen organisieren. Vor ihrer Inhaftierung schrieb die Politikerin Mehbooba Mufti auf Twitter, Indien sei nun als „eine Besetzungsmacht in Jammu und Kaschmir“ anzusehen.

Bereits nach dem Wahlerfolg von Premierminister Narendra Modis hindu-nationalistischer Partei BJP im Mai waren in Kaschmir Befürchtungen lautgeworden, dass Indiens Regierung der Region die Autonomierechte entziehen könnte. Die BJP will erreichen, dass auch Bürger anderer indischer Bundesstaaten Eigentum und Land in Kaschmir erwerben können. Kritiker sehen darin den Versuch der Partei, die demografischen Verhältnisse in dem mehrheitlich muslimischen Bundesstaat zu ändern.

Karte zeigt Kaschmir
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Pakistan schränkt diplomatische Beziehungen zu Indien ein

Als Konsequenz auf die Aberkennung der Autonomierechte will Pakistan seine diplomatischen Beziehungen zu dem Nachbarland erheblich einschränken. Das teilte das Nationale Sicherheitskomitee in Islamabad am Mittwoch mit. Der pakistanische Außenminister Shah Mehmood Qureshi sagte dem lokalen TV-Sender ARY, Pakistan werde seinen Botschafter aus Neu-Delhi zurückrufen und den indischen Botschafter aus Islamabad ausweisen. Zugleich wolle man den bilateralen Handel mit Indien aussetzen und bilaterale Abkommen zwischen den beiden Staaten überprüfen.

Die pakistanische Regierung kündigte zudem an, den „illegalen, einseitigen“ Schritt Indiens vor den UNO-Sicherheitsrat zu bringen, und warnte vor „unvorstellbaren Konsequenzen“. Rückendeckung bekommt die Regierung Pakistans vom mächtigen pakistanischen Militär, das angekündigt hat, den „gerechten Kampf bis zum Ende“ zu unterstützen.

Regelmäßig eskaliert die Gewalt an der De-facto-Grenze zwischen dem indischen Militär und Rebellengruppen, die ein Ende einer „illegalen Okkupation Indiens“ herbeiführen wollen. Indien wirft Pakistan vor, diese zu unterstützen. Pakistan wiederum beschuldigt Indien, willkürlich Zivilisten zu töten. Indien setze zudem verbotene Streumunition ein, so der Vorwurf.