Straßenszene in Glasgow
AP/Emilio Morenatti
Höchste Todesrate

Schottland als Drogenmoloch Europas

1.187 Menschen sind 2018 in Schottland an den Folgen von Drogen gestorben, das ist über ein Viertel mehr als im Vorjahr. Damit ist die Mortalitätsrate bei Drogenmissbrauch zehnmal höher als im EU-Schnitt. Das schottische Drogenproblem gibt es schon lange, mehrere gleichzeitige Entwicklungen haben es nun noch verschärft. Besonders betroffen ist die „Generation Trainspotting“.

Im Kultfilm „Trainspotting“ nach der gleichnamigen Romanvorlage von Irvine Welsh brachte Regisseur Danny Boyle 1996 den schottischen Drogensumpf eindrucksvoll auf die Leinwand. In den 80er und 90er Jahren nahm die Zahl der Heroinabhängigen stark zu. Der größte Anstieg an Todesopfern ist in der Altersgruppe von 35 bis 54 zu verzeichnen, vor allem Männer mit einer jahre-, wenn nicht jahrzehntelangen Drogengeschichte.

Und diese hinterlasse massive Schädigungen, so der Arzt Saket Priyadarshi, der für die britische Gesundheitsbehörde (NHS) in Glasgow in der Suchthilfe arbeitet, gegenüber der BBC. Der Alterungsprozess verlaufe viel rascher, Atemwegs- wie Lebererkrankungen sowie Infektionen mit durch Blut übertragene Viren endeten häufig tödlich. Zwei Drittel aller Drogentoten des Vorjahrs gehören zu dieser „Generation Trainspotting“. „Was dein Körper mit 18 aushält, hält er mit 38 oder 48 nicht mehr aus“, sagte die Pharmazeutin Carole Hunter, die ebenfalls für das NHS in Glasgow arbeitet, der „New York Times“.

Höhere Mortalitätsrate als die USA

Hochgerechnet auf eine Million Einwohner starben in Schottland 2018 insgesamt 218 Menschen, der EU-Schnitt betrug 2016 21,8, heißt es in einem Mitte Juli veröffentlichten Bericht der schottischen Behörden. Schottland liegt damit sogar leicht vor den USA. Es gibt geschätzte 60.000 „problematische Drogenkonsumenten“, das sind Personen, die sich Drogen injizieren oder regelmäßig Opiate, Kokain und/oder Amphetamine konsumieren. Diese Zahl entspricht 1,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, ein deutlich höherer Wert als etwa in Großbritannien insgesamt, berichtete die BBC.

Tödliche Drogencocktails mit „Straßenvalium“

Der starke Anstieg an Todesfällen ist laut Expertinnen und Experten auf Drogencocktails zurückzuführen. In den vergangenen Jahren sei der Straßenverkauf mit Benzodiazepinen überschwemmt worden. Pharmazeutin Hunter sagte dem „Guardian“, das Designerbenzodiazepin Etizolam werde in großen Mengen online gekauft und dann billig auf den Markt geworfen. Niemand wisse aber, welche Qualität die Pillen haben: „Man kann zehn Stück davon an einem Tag nehmen und es ist okay, und am nächsten Tag erleidet man mit derselben Menge eine Überdosis.“

Das als „Straßenvalium“ gehandelte Etizolam wirkt stark angsthemmend und macht extrem abhängig. Häufig wird es mit Alkohol eingenommen, etwa bei Nachlassen der Wirkung von Heroin oder Methadon und auch bei Entzugserscheinungen. Zusammen ergibt das einen oft tödlichen Drogencocktail: Bei fast 800 Todesfällen im Vorjahr spielten Benzodiazepine eine Rolle, Etizolam bei 548 davon.

Folgen sozialer Probleme

Das Drogenproblem Schottlands ist aber auch auf sozioökonomische Faktoren zurückzuführen – und Versäumnisse der Politik. In den ärmsten Gegenden Schottlands sei der Drogenkonsum 17-mal so hoch wie in den reichsten, heißt es in der BBC. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Kinderarmut, kurz soziale Probleme, würden die Lage verschärfen. Und diese hätten ihre Ursprünge teilweise bereits in den 70er Jahren, so David Walsh, Forscher am Glasgow Center for Population, gegenüber der „New York Times“. Die damalige konservative Regierung in London habe Industriestädten wie Glasgow eine rasche ökonomische Restrukturierungskur verordnet. Die soziale Frage blieb auf der Strecke.

 Calton area in Glasgow
APA/AFP/Andy Buchanan
Armut prägt das Stadtbild von Teilen Glasgows bis heute

Der „größte Slum“ Großbritanniens

Tatsächlich ist Glasgow so etwas wie der Brennpunkt der schottischen Drogenprobleme – neben der 150.000-Einwohner-Stadt Dundee und der Umgebung Glasgows. Die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Massenquartiere in einigen Stadtteilen wurden bald die „größten Slums“ Großbritanniens genannt. In den 1950er Jahren versuchte man, die Einwohner in neue Stadtteile und Vororte zu lotsen, gleichzeitig wurden die alten Bauten, etwa in den berüchtigten Gorbals, planiert und in den 1960ern durch Hochhäuser ersetzt. An den sozialen Brennpunkten geändert hat das nichts: Die neuen Hochhäuser verfielen schnell – und wieder war die Rede von „Slums“ und „Ghettos“. Viele der „Tower Blocks“ wurden in den vergangenen Jahren schon wieder gesprengt.

Red Road Blocks in Glasgow
APA/AFP/Andy Buchanan
Die in den 60er Jahren gebauten Red Road Flats wurden zwischen 2012 und 2015 gesprengt

Brutale Jugendgangs

Die Stadt ist bekannt für ihre Jugendkriminalität und das brutale Vorgehen von Jugendbanden – und für die höchste Mordrate in europäischen Städten. Der Höhepunkt wurde 2007 erreicht, mit 4,5 Morden pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Österreich lag der Wert 2016 bei 0,6.

Dabei hat sich die Stadt in den vergangenen 30 Jahren stark verändert: Seit Glasgow 1990 europäische Kulturhauptstadt war, gilt sie auch als aufstrebende Kulturstadt mit großem kreativem Potenzial. An den sozialen Rändern der Stadt und der Gesellschaft änderte sich aber weniger: Noch 2018 hieß es, 45 Prozent aller Kinder der Stadt seien von Armut betroffen. Die Sparpolitik der britischen Regierung der vergangenen Jahre und die damit einhergehenden Kürzungen von Sozialleistungen hätten die Situation verschlimmert, sagte Andrew McAuley, Suchtforscher an der Glasgow Caledonian University.

Politische Versäumnisse

Experten bemängeln in der „New York Times“ Versäumnisse der Politik: Die konservative Regierung in London mache bei ihrer restriktiven Drogenpolitik keine Zugeständnisse, obwohl man in anderen Ländern mit einer progressiveren Politik durchaus Fortschritte sehe, heißt es. So gebe es in Schottland keine kontrollierten Drogenkonsumräume, dabei würden in solchen Einrichtungen Übertragungen von Krankheiten wie auch Überdosierungen eher verhindert werden. Zudem erleichtere es den Gesundheits- und Sozialdiensten auch, mit den Süchtigen in Kontakt zu kommen.

Die schottische Regierung wiederum habe 2016 das Budget für Alkohol- und Drogenprävention drastisch gekürzt. Zwar wurden die Mittel dafür mittlerweile wieder aufgestockt, der Schaden sei aber bereits eingetreten. Nur 40 Prozent der Drogenabhängigen befänden sich in Schottland in medizinischer Behandlung, heißt es in der „New York Times“. In England sind es 60 Prozent.

Bei den Gesundheitsbehörden hofft man indes, dass Schottland wenigstens von der Opioidkrise, wie sie derzeit in den USA wütet, verschont bleibt. 2018 hatte es nur zwölf Todesfälle gegeben, bei denen auch das Schmerzmittel Fentanyl nachgewiesen worden ist. Sollte sich das ändern und Fentanyl auch den schottischen Markt überschwemmen, befürchtet Suchtforscher McAuley das Schlimmste: „Dann haben wir hier eine Art Endspielszenario.“