Betroffene berichten

Jemen in Zeiten von Krieg und Cholera

Vier Jahre nach dem Ausbruch des Krieges ist der Jemen kaum wiederzuerkennen. Das Land liegt brach, Gebäude sind zerbombt, die Infrastruktur zerstört und die medizinische Versorgung kurz vor dem Kollaps. Zudem wütet eine historische Cholera-Epidemie. Ein Ende scheint nicht in Sicht – alleine im August gab es bereits zahlreiche Anschläge. Eine NGO-Helferin und ein Geflüchteter sprachen mit ORF.at über die „schlimmste humanitäre Krise der Welt“.

Nach offiziellen UNO-Angaben wurden in dem Konflikt im Bürgerkriegsland Jemen bisher 10.000 Menschen getötet – ein Bericht der Vereinten Nationen geht bis zum Ende des Jahres allerdings von 233.000 Todesopfern aus. Zudem wurden über drei Millionen in die Flucht getrieben. Die Verbliebenen leben in bitterer Armut und sind zum Großteil auf humanitäre Hilfe angewiesen, über drei Millionen Menschen droht der Hungertod.

Care Mitarbeiterin im Jemen
CARE/Jennifer Bose
Jennifer Bose war bereits in vielen Krisengebieten, doch die „Masse an Leid“, wie sie im Jemen zu finden ist, war auch für sie neu

Während in anderen Krisengebieten Konflikte nur in vereinzelten Regionen stattfinden, zieht sich der Krieg im Jemen flächendeckend über das Land. „Die Auswirkungen sind wirklich überall zu sehen und zu spüren. Diese Masse an notleidenden Menschen, diese Masse an Leid, das war selbst für mich neu“, sagte Jennifer Bose von der Hilfsorganisation Care im Gespräch mit ORF.at. Obwohl sie bereits in Krisengebieten wie Nigeria, Mosambik, Somalia und Uganda im Einsatz war, habe sie sich noch nie in einem Land so unsicher gefühlt wie im Jemen.

UNO: „Schlimmste humanitäre Krise der Welt“

Die Vereinten Nationen bezeichnen den Konflikt als die schlimmste humanitäre Krise der Welt. Was das bedeutet, weiß auch Najib Alhubaishi. Er verließ seine Heimat, als es noch möglich war, und lebt nun legal in Deutschland. Jeden Monat schickt er Geld zu seiner Familie, „damit sie weiterleben können“. Denn regelmäßige Gehaltszahlungen gebe es schon lange nicht mehr, wie er gegenüber ORF.at sagte.

Das bestätigte auch Bose: „Der Arbeitsmarkt und eigentlich die ganze Wirtschaft sind im Jemen komplett zusammengebrochen.“ Zudem wachse eine ganze Generation an Kindern ohne Bildung auf – etwas, das das Land auch nach dem Kriegsende noch beeinflusse werde, meinte Bose: „Es wird die Zukunft der Menschen und Kindern geraubt.“

Primär gehe es derzeit aber darum, „den Menschen beim Überleben zu helfen“. Vor allem Kinder sind akut mangelernährt, laut Care sind über sieben Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Während die Löhne in den vergangenen vier Jahren auf durchschnittlich drei Euro am Tag gesunken sind, haben sich die Preise für Nahrungsmittel verdoppelt. Care unterstütze hilfsbedürftige Menschen mit Kleidung, Nahrung und finanziellen Mitteln.

Junger Mann mit Kübeln bei Bauarbeiten
CARE/Jennifer Bose
Im Zuge eines Hilfsprojekts von Care bauen Männer zerstörte Schulen und Spitäler wieder auf

Hilfsmittellieferungen als Herausforderung

Auch wenn die Häfen mittlerweile wieder geöffnet sind, sei es Bose zufolge schwierig, dass Hilfe wirklich bei jenen ankommt, die sie benötigen. Aufgrund unterschlagener Lebensmittellieferungen und blockierter Hilfskonvois stoppte das UNO-Welternährungsprogramm im Juni teilweise die Versorgung.

Oftmals seien es Soldaten, die die Hilfslieferungen einfach einbehielten oder um den doppelten Preis weiterkauften, erzählte Alhubaishi. Das betreffe nicht nur Lebensmittel, sondern auch medizinische Versorgung: „Meine Mutter ist schwerkrank und braucht Insulin. Manchmal gibt es das einfach nicht. Und wenn, ist es oft gemischt mit Wasser.“

Historischer Cholera-Ausbruch

Selbst der Zugang zu sauberem Trinkwasser ist oft nicht gegeben – was unter anderem zum weltweit schlimmsten Cholera-Ausbruch führte. Allein seit Anfang des Jahres gab es Care zufolge rund 300.000 Cholera-Fälle, 2017 waren es sogar mehr als eine Million.

„Das Risiko für Krankheiten ist generell sehr hoch. Kinder spielen in dreckigen Pfützen auf der Straße, überall liegt Müll, da es keine Müllabfuhr mehr gibt. Dazu kommt die Trinkwasserknappheit – da können sich Krankheiten wie Cholera schnell ausbreiten“, so Bose.

Mann teilt für seine Familie gesammelte, verschimmelte Brotreste auf
AP/Hani Mohammed
Unterernährung und Krankheiten wie Cholera und Diphtherie sind im Jemen trauriger Alltag

Westen schaut weg

Trotz der katastrophalen Lage sei die Krisenhilfe „absolut unterfinanziert“ – und mit jedem Tag, der vergeht, drohe sie mehr und mehr zur Normalität zu werden und somit in Vergessenheit zu geraten, so Bose. Neben mehr finanzieller Unterstützung forderte Bose die Politik in der EU auf, eine politische Lösung für den Konflikt im Jemen zu finden. Laut Beobachtern ist die Tatsache, dass kaum Geflüchtete aus dem Jemen nach Europa kommen, unter anderem ein Grund, warum die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart im Westen so wenig Aufmerksamkeit erfährt.

Denn vom Krieg Betroffene können nicht einfach fliehen: „Die Flughäfen sind geschlossen, auch mit dem Schiff gibt es nicht wirklich Wege raus aus dem Land, die Landwege sind teilweise sehr gefährlich, und es ist einfach sehr teuer“, erzählte Bose. Care zufolge gibt es rund 3,6 Millionen Binnenflüchtlinge.

Rauch über der Stadt Aden im Jemen
Reuters/Fawaz Salman
Aden ist seit Tagen Schauplatz schwerer Gefechte zwischen Separatisten und Unterstützern der Regierung

Auch Alhubaishi kennt das Problem, regelmäßig bekommt er Anrufe von Freunden und Verwandten aus dem Jemen, die ihn um eine Lösung bitten: „Alle wollen raus. Aber leider, die Grenzen sind zu.“ Und ohne Visum gebe es schon gar keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. „Im Jemen ist nichts mehr so wie in meiner Erinnerung, bevor ich nach Deutschland gegangen bin“, erzählte er. Wenn er Bilder sehe, „wie sie Krieg machen“, müsse er manchmal weinen – aus Angst, eine Bombe könnte ein Haus seiner Familie treffen.

Internationale Verbündete

Der Konflikt im Jemen schwelt schon seit Langem und eskalierte im September 2014. Damals nahmen schiitische Rebellen aus den Nordprovinzen, die sich Huthis nennen, die Hauptstadt Sanaa ein und vertrieben die international anerkannte Regierung in den Süden, in die Stadt Aden. Seitdem herrscht ein Bürgerkrieg zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung. Mittlerweile haben die Huthis große Teile des Nordjemens unter ihrer Kontrolle. Unterstützt werden sie vom Iran, dem Erzfeind Saudi-Arabiens.

Sunniten und Schiiten

Im Islam gibt es im Wesentlichen zwei Glaubensströmungen. Während Saudi-Arabien sunnitisch geprägt ist, ist der Iran schiitisch dominiert. Im Jemen stellen den größten Anteil die Sunniten dar, jedoch gehört eine große Minderheit (30–45%) den Schiiten an.

Den Huthi-Rebellen stehen jemenitische Truppen des Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi gegenüber, die unter anderem vom sunnitischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) unterstützt werden. Beide Staaten fürchten, dass der Iran mit der Unterstützung der Huthis seine Macht in der Region ausbauen will.

Aus diesem Grund begann der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman kurz nach seinem Antritt als Verteidigungsminister im März 2015 die saudi-arabische Militärintervention im Jemen. In Riad schmiedete man eine Allianz mit neun Staaten und sicherte sich die logistische Unterstützung der USA, Frankreichs und Großbritanniens.

Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran

Saudi-Arabien führt das Militärbündnis an und unterstützt die Regierung vor allem aus der Luft. Riad beschuldigt den Iran, die Huthis zu Raketenangriffen auf Saudi-Arabien anzustacheln. Saudi-Arabien will Angriffe des Militärbündnisses daher auf den Nordjemen konzentrieren, von wo aus Huthis immer wieder Ziele jenseits der saudischen Grenze angreifen. Den VAE geht es dagegen vor allem um die Kontrolle des Südens und der südlichen Hafenstadt Aden. Der Konflikt gilt daher als Stellvertreterkrieg Saudi-Arabiens und des Iran.

Vergangenen Monat hatten die Emirate zum Unmut Saudi-Arabiens allerdings angekündigt, ihre Truppengröße im Jemen schrittweise zu verringern. Hintergrund könnten Beobachtern zufolge neben der unterschiedlichen Jemen-Strategie auch Vorbereitungen auf eine mögliche militärische Konfrontation zwischen den USA und dem Iran gewesen sein.

Seperatistenkämpfer (STC) auf einem Truck in Aden im Jemen
APA/AFP/Nabil Hasan
Separatistenkämpfer auf einem Truck

Auch Terrororganisationen aktiv

Die Kriegschaos machen sich allerdings auch extremistische Gruppen zunutze. Neben der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sind auch Al-Kaida-Extremisten im Jemen aktiv. Alleine im August kamen bei Anschlägen der beiden Organisationen rund 60 Menschen ums Leben. „Die beiden Angriffe beweisen, dass die Huthi-Miliz und andere Terrorgruppen sich im Krieg gegen die jemenitische Bevölkerung gegenseitig ergänzen“, teilte die international anerkannte Regierung in Aden mit.

Dem deutschen UNO-Diplomaten Achim Steiner zufolge habe die internationale Gemeinschaft bei dem Konflikt mit ihrer anfänglichen Passivität zu dem Desaster beigetragen: "Ich glaube, im Jemen haben wir traurigerweise viel zu lange gewartet, bis auch den an dem Stellvertreterkrieg beteiligten Mächten klargeworden sei, dass der Konflikt sich nicht von selbst löse oder gewonnen werden könnte.“

Alhubaishi zeigt sich den Geschehnissen gegenüber resigniert. „Niemand wird gewinnen, das ist im Krieg so. Davon betroffen sind natürlich hauptsächlich die armen Leute, die nichts damit zu tun haben.“